Revolte

Appell an die Jugend Europas

Eine Demonstration in Berlin gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa
Jugendliche demonstrieren gegen die hohe Arbeitslosigkeit in Europa. © picture alliance / dpa / Kay Nietfeld
Von Christian Schüle · 12.07.2016
In Anbetracht eines maroden Europa muss die Jugend Europas endlich revoltieren, meint unser Autor Christian Schüle - gewaltlos, mit Sinn und Verstand, Diskurs und gemeinsamen Forderungen. Denn die Jugendlichen sind in erster Linie die Leidtragenden, weil sie einer guten Zukunft beraubt werden.
Europa war jahrhundertelang ein verheerendes Schlachtfeld, aber es war immer auch die Idee der Jugend, der Morgenröte, der Hoffnung und Freiheit. Die verwöhnten Nachkriegseuropäer haben sich lange Zeit die Illusion geleistet, Frieden, Wohlstand und Stabilität seien gesetzt und nicht mehr zur Disposition zu stellen - und müssen jetzt erfahren, dass Demokratie tatsächlich auf Voraussetzungen basiert, die sie nicht garantieren kann: die Zustimmung der Bürger.

Triumph der Reaktionäre

Jetzt triumphieren über den Kontinent hinweg die Reaktionäre, und der lange im Schlummer lauernde, nun erwachte Nationalismus in vielen seiner Staaten verrät die gemeinsame Jugend.
Es ist zweifach bitter: Dass die Jugend einerseits verraten wird - und sich andererseits verraten lässt. Warum letzteres? Weil sie mit schierem Überleben beschäftigt ist und auf ein von den Etablierten gut bestelltes Feld für Arbeit und Talent-Entfaltung angewiesen wäre. Und weil sie, die Jugend, größtenteils, bisher verstummt, zumindest nicht vernehmbar war, sich im inneren Exil eingerichtet hatte und vor lauter Selbstverständlichkeit und Geschichtsvergessenheit womöglich nicht zu schätzen wusste, was der "Erasmus"-Gedanke für sie bedeutet: den keineswegs selbstverständlichen, grenzüberschreitenden, kulturübergreifenden, humanistischen Anspruch auf Geist, Bildung und Selbstbestimmung jedes Europäers.

Das Recht auf Revolte

Die Jugend, ganz pauschal gesagt, besteht als Folge der sozio-kulturellen Evolution der vergangenen 30 Jahre aus lauter Individualisten, die zwar digital verbunden sind, aber kein substanzielles Wir-Gefühl und keine pan-europäische Generationen-Identität ausbilden.
Aufgabe jeder Staats- und Regierungsform ist es, zum Wohl und zur Freiheit seiner Bürger zu agieren. Wohl und Freiheit der Jugend Europas aber sind gefährdet, die von den Alten und Mittel-Alten verursachte Jugendarbeitslosigkeit ist eine Katastrophe.
Wann immer allerdings die Freiheit auf Selbstentfaltung beschnitten wird, gibt es ein moralisches Recht auf Revolte - so hat es der große Albert Camus formuliert. Eine Revolte, die mehr ist als nur Rebellion, weil Rebellion in die Leere eines aktionistischen Widerstands um seiner selbst willen läuft. Eine Revolte, die gerade keine Revolution ist, weil sie nichts gewaltsam umstürzt oder zu Tode schlägt. Revolte hingegen heißt: Macht aufzulösen, indem man sie nicht mehr anerkennt, wenn sie das Prinzip Freiheit verletzt.

Geht Hand in Hand über die Soldatenfriedhöfe

Fast alle Nachwachsenden fast aller europäischer Nationen sprechen englisch; so gut wie alle haben Zugang zum Internet. Jugend!, möchte man also rufen, nutzt die Neuen Medien, knüpft Netzwerke und baut französisch-deutsch-polnisch-griechisch-schwedisch-bulgarische-iberisch-baltische Achsen! Lasst euch von den Alten vom Krieg erzählen und geht Hand in Hand über die Soldatenfriedhöfe von Verdun und Ypern. Erkennt, dass eure Freiheit bedroht ist: durch totalitäre Überwachung und religiösen Fundamentalismus, durch nationalistische Demagogen und sozialistische Ideologen. Durch ökonomische Oligopole, Steuerflucht und Verstoß gegen das Gemeinwohl.
Erhebt Forderungen, bündelt sie und tragt sie vor. Fordert eine Bildungs-Partnerschaft europäischer Schüler und Jugendlicher mit europäischen Unternehmen; fordert ein Investitionsprogramm aus Brüssel für ein duales Ausbildungsystem in allen Ländern; fordert eine einheitliche europäische Sozialversicherungsnummer, die überall dort gültig ist, wo das Recht auf Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit gilt; fordert die soziale Flanke einer europäischen Markwirtschaft mit verbrieften Arbeitnehmerrechten ein.

Jugendliche müssen sich Gehör verschaffen

Die Jugendlichen sind es, die aufstehen, werben und argumentieren, die sich selbst Gehör verschaffen und überzeugende Führungsfiguren auf die politische Bühne bringen müssen. Sie sind es, die die neue Story eines vereinigten Europas erzählen und sich zum historischen Subjekt der Zukunft machen müssen.
Diese Erzählung wäre der Anfang einer gemeinsam begründeten Union künftiger Europäer, die sich - sowohl im Ringen mit den Blöcken Amerika, China, Russland und den Golf-Staaten als auch im Kampf gegen theokratische Steinzeitreiche, Technologie-Monopole und Weltbeherrschungsfantastereien - diesen wunderbaren, zu Tiefsinn, Vernunft, Wissen und Lernfähigkeit so begabten Kontinent sozial und politisch nicht aus der Hand nehmen lassen.
Es ist höchste Zeit, die Idee der bürgerlichen Freiheit neu zu denken.

Christian Schüle, 45, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der "Zeit" und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg.

Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und die Essays "Wie wir sterben lernen" und "Was ist Gerechtigkeit heute?" (beide Droemer-Knaur/Pattloch). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

© Nicole Strasser
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