Regime-Sturz bringt noch keine Demokratie

Moderation: Jens Brüning · 19.07.2005
Vor dem Hintergrund des 60. Jahrestages der Potsdamer Konferenz bezweifelt der amerikanische Philosoph Michael Walzer, dass die Demokratisierung Deutschlands und Japans nach dem Zweiten Weltkrieg als Modell für den Irak gelten kann. Dort gebe es im Gegensatz zu Deutschland keine demokratische Tradition.
Brüning: Der Grund, aus dem Sie hier waren, war der 60. Jahrestag der Potsdamer Konferenz. Was haben Sie an diesem Wochenende debattiert?

Walzer: Vor allem haben wir über die Frage gesprochen, ob die Demokratisierung Deutschlands und Japans in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein Modell für den Irak oder andere Orte auf der Welt sein könnte. Und – wie Sie sich vorstellen können – gute Historiker, die sich das genau anschauen, was hier 1945 und während der nächsten vier oder fünf Jahren geschah, waren nicht der Meinung, dass dies ein Beispiel wäre, das verallgemeinert werden könnte. Vor allem aus zwei Gründen:

Erstens hatte Deutschland eine Demokratie-Geschichte, die Irak und eine Menge Staaten in der Dritten Welt nicht haben. Das Erleben der Weimarer Republik und sogar die Wahlen, bevor es eine Republik gab, das Bestehen politischer Parteien, die man schnell wieder beleben konnte, das alles machte es den einzelnen Deutschen möglich, eine führende Rolle bei der Demokratisierung ihres Landes zu übernehmen.

Und zweitens war es eine sehr homogene Gesellschaft ohne große ethnische, religiöse und regionale Brüche. Es gab Brüche, aber keine, die zu einem Bürgerkrieg geführt hätten. Es gab eine Einheit und eine Geschichte. Und das machte die Demokratisierung in diesem Fall viel einfacher, als in irgendeinem Fall, den wir uns in Bezug auf die Dritte Welt ausdenken können.

Brüning: Die Bedingungen für einen Neuanfang nach dem Krieg waren ja auch andere, weil die Entstehungsbedingungen für den Krieg andere waren als bei den heutigen Kriegen.

Walzer: Nun, es gab einen totalen Sieg für die alliierten Kräfte, sowohl im Pazifik als auch hier in Europa. Und im Irak – wie wir heute wissen, weil die amerikanische Regierung einen billigen Krieg führen wollten und die Quellen, die ein Erfolg gefordert hätte, nicht erkannte – gab es nichts dergleichen.

Brüning: Und der Anfang war anders: Die Alliierten hatten es zunächst mit einem Angreifer zu tun. Sie mussten gegen die Deutschen, Japaner und Italiener um ihr Leben kämpfen. Sie haben nicht angefangen mit dem Krieg, hatten aber gute Gründe, in den Krieg zu ziehen.

Walzer: Ja, da stimme ich zu. Der amerikanische Krieg reagierte nicht auf einen Angriff des Irak. Andererseits aber muss man sehen, das Saddam Husseins Regime eines der hässlichsten auf der Welt war, sowohl in Hinsicht auf seine Nachbarn, indem es Kämpfe sowohl mit dem Iran als auch mit Kuwait gab und Raketen gegen Saudi-Arabien und Israel abschoss, als auch im Hinblick auf seinen Umgang mit dem eigenen Volk, vor allem in Norden und im Süden, wo eine schiitische Mehrheit und eine kurdische Minderheit leben. Trotzdem haben Sie recht: Dies war ein Krieg, der weder aus Gerechtigkeit noch aus Notwendigkeit entstand.

Brüning: Wenn der Krieg dereinst beendet sein wird, was soll geschehen? Sie haben über multinationale und Nicht-Regierungs-Organisationen gesprochen. Was ist das Beste?

Walzer: Nun, manchmal geraten Staaten oder Regierung in solche politische Komplikationen, dass es kein Rezept dafür gibt, was zu tun wäre. Und das könnte für die Lage im Irak zutreffen. Wir müssen einen Ausweg finden, und das heißt, wir müssen eine irakische Regierung fördern, die stark genug ist, um das Morden zu stoppen oder wenigstens zu mindern, und die eine Lösung in ihrem Land aushandeln.

Aus dem Irak wird ganz sicher keine sozialdemokratische skandinavische Gesellschaft und es wird auch keine liberal-demokratische Gesellschaft daraus werden, es könnte daraus aber – so hoffe ich – ein sehr viel weniger brutale Gesellschaft werden als sie es unter Saddam war, und so etwas könnte entstehen, wenn die gegenwärtige Regierung, die eine schiitische Regierung ist, sich durch einen amerikanischen Rückzug herausgefordert fühlt, mit den Kurden im Norden und den Sunniten in der Mitte Kompromisse zu schließen.

Man kann sich die Art dieses Kompromisses nur schwer vorstellen, aber im Moment kann man sich nicht einmal den Prozess vorstellen, aufgrund dessen die Verhandlungen stattfinden könnten.

Man muss sagen, dass es eine offene Verhandlung zwischen politischen Gruppen mit unabhängigen sozialen Grundlagen mit dem Ziel eines Kompromisses in keinem arabischen Land gegeben hat. Also, wenn so etwas im Irak gelingen sollte, selbst wenn daraus keine wunderbare Demokratie entsteht, es muss ja nur einigermaßen anständig sein, das wäre schon ein Fortschritt.

Brüning: Es gab in der linken Politik einen Wechsel in den vergangenen zehn oder fünfzehn Jahren. Was ist aus Ihrer Sicht der Hauptpunkt dieses Wandels?

Walzer: In den Vereinigten Staaten kann man ein großes "Crossover" beobachten zwischen linken und rechten Strömungen. Es ist in den USA heutzutage die Rechte, die eine Weltsicht pflegt, die an Ideologie festhält, und die der Überzeugung ist, dass ihre Weltsicht und ihre Ideologie richtig sind und daher in der Weltgemeinschaft mit großer Sicherheit auftritt. Und die Linke in den USA, die liberale Linke, ist defensiv, nervös, sachlich, verschwommen, beantwortet die treibenden Ideologien der Rechten mit Beschwichtigungen: Man kann das nicht so schnell vorantreiben, es ist besser, langsam voran zu machen. Sie klingen wie Edmund Bourke oder wie früher die Konservativen.

Man bekommt einen Eindruck von der welthistorischen Umkehr, wenn man sich daran erinnert, wie die Rote Armee 1919 nach Warschau marschierte und wie die amerikanische Armee nach Bagdad marschierte. Die Rote Armee wurde vom guten alten russischen Imperialismus getrieben, aber auch von kommunistischer Militanz und Idealismus, und die amerikanische Armee wurde angetrieben vom guten alten amerikanischen Imperialismus, aber auch durch demokratische Begeisterung und ideologischen Eifer.

Und wir auf der Linken sehen diese amerikanische Armee nach Bagdad und sagen: Nein, das dürft ihr nicht machen, die Welt funktioniert nicht so, man muss es langsam angehen lassen, man muss aussöhnen, man muss verhandeln, man darf nicht so schnell Gewalt anwenden, es ist furchtbar schwierig, demokratische Politik zu schaffen. Das ist genau dieselbe Art, wie die Rechten früher über die Außenpolitik der Linken geredet haben.


Es gab einen Umschwung, und es ist nicht leicht, das zu begreifen. Das versetzt die Linke, die liberale Linke, die Demokratische Partei in eine missliche Lage, denn die Welt schaut auf uns, wie es der Dichter Yeats beschrieben hat: Den Besten fehlt jede Hingabe, aber die Schlechten sind voller leidenschaftlicher Stärke. Heute also scheint der Linken jegliche Hingabe zu fehlen, und die Rechte scheint voller leidenschaftlicher Stärke zu sein.

Alles, was ich dazu sagen kann, ist: Wenn man diese ideologisch getriebene Rechte mit der Forderung nach Vorsicht und Klugheit und Sachlichkeit konfrontiert, sieht das derzeit so aus, als wäre das unsere einzig plausible Antwort. Künftig aber müssen wir eine andere Vision formulieren, wie man weltweit handeln kann. Das wäre enorm hilfreich, wenn wir mit einer starken europäischen Linken gemeinsam handeln könnten.

Brüning: Besteht da ein Widerspruch zwischen sozialen Fragen und Wirtschaftsfragen?

Walzer: Nein, nein, das denke ich nicht. Ich glaube, die Republikaner sind leidenschaftlich und ideologisch getrieben mit sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Fragen beschäftigt. Sie besitzen eine zusammenhängende Weltsicht. Sie basiert auf den Märkten, ist politisch abenteuerlich, ohne jedes Schuldgefühl im Hinblick auf Armut und Ungleichheit. Es gibt in den USA eine härtere Rechte, als wir das je beobachten konnten.

Brüning: Thank you very much. Vielen Dank.

Info Michael Walzer:
Michael Walzer ist Professor für Sozialwissenschaft an der Universität Princeton. Er ist Mitherausgeber der Zeitschriften "Dissent" und "New Republic". Werke u.a.: Politics and Passion (2004), Arguing about War (2004), und Universalism and Jewish Values (2001). Zusammen mit anderen Historikern und Intellektuellen diskutiert Walzer derzeit im Einstein Forum in Potsdam über den Modellcharakter der Konferenz von Potsdam vor 60 Jahren.
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