Redefreiheit in der Wissenschaft

Jeder sollte für sich selber sprechen

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Illustration von menschlichen Figuren auf einem Schachbrett.
Meinungen sollten geäußert und ausgehalten werden können, so Maria-Sibylla Lotter. © imago/ Ikon Images
Ein Standpunkt von Maria-Sibylla Lotter · 08.01.2020
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Studierende protestieren an Universitäten gegen ausgrenzende und diffamierende Positionen. Unterprivilegierten Gruppen sei aber nicht geholfen, indem man sie vor allem bewahre, was sie kränken könnte, meint die Philosophin Maria-Sybilla Lotter.
In den letzten Jahren hat sich das Klima an den deutschen Universitäten verändert. In Hamburg blockierten Studierende die Ökonomie-Vorlesung des AFD-Mitgründers Bernd Lucke. Die Begründung: Er vertrete neoklassische Lehren. In Frankfurt verlangen Studierende die Entlassung der Ethnologin Susanne Schroeter. Die Begründung: antiislamischer Rassismus, weil sie eine Konferenz zum islamischen Kopftuch organisierte. Vorträge von streitbaren Wissenschaftlern und Politikern wurden abgesagt, andere konnten nur unter Polizeischutz stattfinden. Ist die grundgesetzlich verbürgte Wissenschaftsfreiheit in Gefahr?
Nun stehen deutsche Universitäten vergleichsweise gut da, wenn es um den rechtlichen und politischen Schutz der Wissenschaftsfreiheit geht. Deutsche Wissenschaftler müssen keine Verhaftungen auf dem Campus oder Berufsverbote fürchten. Oder Schlimmeres wie in Ägypten, wo ein italienischer Doktorand, der über unabhängige Gewerkschaften forschte, tot und mit Folterspuren im Straßengraben entdeckt wurde. In solchen Ländern geht die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit von der Regierung aus. Im Gegensatz dazu ist die Wissenschaft in Deutschland durch die Verfassung vor staatlicher Zensur geschützt.

Selbstüberschätzung gefährdet Redefreiheit

Ist die Rede von der Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit also Humbug, wie unlängst in einer ARD-Kontraste-Sendung behauptet wurde? Leider nein, denn zur Wissenschaftsfreiheit gehört nicht nur der Schutz vor staatlicher Willkür. Sondern auch die Freiheit, unübliche Thesen zur Diskussion zu stellen. Das ist aber nur in einer Kultur der intellektuellen Bescheidenheit, moralischen Zurückhaltung, Toleranz und Neugierde möglich.
Nur wer weiß, dass er in fachlichen wie in moralischen Fragen falsch liegen könnte, freut sich über die Konfrontation mit beunruhigenden Thesen oder Nachfragen: Weil sie einen dazu zwingen, die eigenen oft vagen und ungeklärten Meinungen einmal genau aus zu buchstabieren und zu überprüfen. Heute scheint jedoch oft das Bedürfnis zu überwiegen, seine moralische und politische Orientierung nicht in Frage stellen zu müssen. Eine Selbstüberschätzung mit Folgen für die Freiheit der Wissenschaft. Sie scheint dann nur ein Vorwand, falschen, feindlichen und bösen Ansichten eine Plattform zu bieten.

Beleidigungen statt sachlicher Diskussion

Nach heftigen Diffamierungen gegen die Sozialwissenschaftler Herfried Münkler und Jörg Barberowski beklagt die Präsidentin der Berliner Humboldt Universität, Sabine Kunst, derzeit einen Zitat "Trend, sich von einem offenen, respektvollen Meinungsaustausch zu verabschieden und den Raum stattdessen mit Polemik, Beleidigungen und Diffamierungen zu füllen".
Mangelnde Kritikfähigkeit ist eine Ursache. Eine andere: eine falsch verstandene, eigentlich gut gemeinte, aber abstrakte Fürsorge. Studierende, die diffamierend gegen Wissenschaftler protestieren, die sie für rassistisch oder islamophob halten, möchten die Freiheit unterprivilegierter Gruppen schützen, für sich selbst zu sprechen, ihre eigene Stimme zu Gehör zu bringen.

Unterprivilegierte Gruppen sollten für sich selber sprechen

Menschen, denen es aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sozialen und kulturellen Herkunft an Selbstbewusstsein mangelt, werden jedoch schwerlich gefördert, indem man sie pauschal vor allem bewahrt, was sie möglicherweise kränken könnte. Es wäre besser, die betroffenen Individuen zu stärken, indem man ihnen selber Gehör verleiht und durch offene Diskussionen gezielt ihre Argumentations- und Kritikfähigkeit fördert. Nur so kann ihre individuelle Verletzlichkeit gemindert werden und die Wissenschaft ihre Freiheit behalten.

Maria-Sibylla Lotter studierte Philosophie, Religionswissenschaft und Ethnologie in Freiburg, Berlin und St. Louis/USA und war anschließend an verschiedenen Universitäten in Deutschland und der Schweiz in der philosophischen Forschung und Lehre tätig. Seit 2014 lehrt sie als ordentliche Professorin für Philosophie der Neuzeit, Ethik und Ästhetik am Institut für Philosophie I der Universität Bochum. Ihr Schwerpunkt liegt in der Philosophie des Alltagslebens, Fragen von Schuld und Verantwortung, Lüge und Selbstbetrug und der Bedeutung der Kunst für die Moral. Zu ihren akademischen Veröffentlichungen zählen "Besser geht’s nur in der Komödie" (mit Eike Brock, Alber 2918) Die Lüge (Reclam 2017) "Schuld, Scham und Verantwortung" (Suhrkamp 2012/16).

© Marion Nelle
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