Rechtsanspruch statt Almosen

Von Annette Wilmes · 04.05.2011
Menschen, die nicht für ihren Lebensunterhalt sorgen konnten, wurden schon seit Bismarcks Zeit vom Staat unterstützt. Die "Öffentliche Fürsorge" wurde jedoch wie Almosen gewährt. In der jungen Bundesrepublik indes nahm die Politik das Sozialstaatsprinzip sehr ernst.
"Die Sozialhilfe, wie wir die Leistungen der Fürsorge künftig nennen wollen, soll nur gewährt werden, wenn der Hilfesuchende sich nicht selbst helfen kann und wenn er die Hilfe auch von anderen nicht erhält."

Bundesinnenminister Gerhard Schröder stellte den Entwurf in der ersten Lesung im Bundestag vor. Das neue Gesetz sollte das bestehende Fürsorgerecht grundlegend umgestalten.

"Wenn die Bundesregierung das Wort 'Öffentliche Fürsorge' nicht übernommen hat, so geschah dies vor allem aus dem Wunsch heraus, den endgültigen Abschied vom Armenwesen vergangener Zeiten deutlich zu machen und um durch die gewählte Bezeichnung den neuen Geist und den neuen Inhalt des Gesetzes zum Ausdruck zu bringen."

Das Bundessozialhilfegesetz, das am 4. Mai 1961 im Bundestag verabschiedet wurde, löste das Fürsorgerecht von 1924 ab, das im Wesentlichen auf dem Gedanken des preußischen Rechts beruhte und die Bedürftigen als bloßes Objekt staatlichen Handelns sah. Das neue Gesetz sollte dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes gerecht werden, das hatte vor allem ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 1954 vorgegeben. Schwerpunkt des neuen Gesetzes sollte aber vor allem die Hilfe in besonderen Lebenslagen sein. Gerhard Schröder Anfang der 60er-Jahre:

"Denken Sie an sieche oder sonst pflegebedürftige Personen, denen mit der Zahlung einer Geldsumme allein nicht gedient ist. Denken Sie weiter an Personen aller Altersgruppen, die körperbehindert sind, blind, sprach- oder hörgeschädigt sind. Lassen Sie mich hier auch alte Menschen nennen, die ohne persönliche Betreuung völlig vereinsamen."

Der Staat sollte keine Almosen an die Armen verteilen, sondern ihnen geben, was ihnen zustand. Denn der vom Bundesverwaltungsgericht bereits 1954 festgelegte Rechtsanspruch auf öffentliche Fürsorge wurde nun erstmals ausdrücklich geregelt.

"Sie müssen sich nicht schämen, sondern sie müssen darauf vertrauen können, dass ihnen diese Hilfe zusteht. Und damit waren soziale Bürgerrechte geschaffen. Das war der große Fortschritt des Bundessozialhilfegesetzes."

Helga Spindler, Professorin für Sozialrecht an der Universität Duisburg-Essen. Die Politik, sagt sie, habe sich damals sehr darum bemüht, den Menschen klar zu machen, dass Sozialhilfe eine Leistung ist, die sie beantragen können wie Kindergeld, Wohngeld oder Bafög.

"Die Politik hat nicht nur Aufklärung betrieben, sie hat richtig Werbung betrieben. 'Wenden Sie sich an die Behörde'. Hier geht es um menschenwürdiges Leben und dass jeder, der den Bedarf hat, sich darauf verlassen kann, dass der Staat ihn unterstützt."

Die Sozialhilfe entwickelte sich in den 70erä- und 80er-Jahren zu einer echten Lebenshilfe für die bedürftigen Menschen. Zuständig waren die Kommunen. Doch schon in den 80er-Jahren wurde die Belastung immer größer: Zuwanderer, deutsche Aussiedler und dann der Anstieg der Arbeitslosenzahlen nach der Wende drückten auf die Kassen. Um die Situation aufzufangen, traten von 2002 bis 2005 die sogenannten Hartz-Gesetze für - wie es hieß - "moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" in Kraft. Mit Hartz-IV wurden die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe zusammengeführt. Sozialrechtsprofessorin Helga Spindler:
"Man hat die Arbeitslosenhilfe abgeschafft, obwohl es eine Leistung war, mit der viele Leute auch nach der Wende in den neuen Bundesländern, obwohl sie niedrig war, ganz gut auskommen konnten. Und man hat ein neues Gesetz geschaffen, das die Grundsätze der Bedarfsdeckung, der Individualisierung nicht übernommen hat, keine persönlichen Hilfen in diesem Umfang mehr vorgesehen hat."

Wer früher als Arbeitsfähiger Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe bezog, ist heute Hartz-IV-Empfänger. Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2010 eine Gesetzesänderung angemahnt, weil es die Art und Weise, wie die Regelsätze ermittelt wurden, als verfassungswidrig einstuft. Der Gesetzgeber hat versucht, das auszugleichen. Hartz-IV-Empfänger erhalten rückwirkend ab dem 1. Januar 2011 fünf Euro monatlich mehr; für die Kinder wurde ein so genanntes Bildungspaket bereit gestellt. Ob diese Maßnahmen den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts genügen, bleibt jedoch weiterhin umstritten.