Radikale Linke im Zentrum des Kapitalismus

Von Ralf Geißler · 11.11.2012
Hungerlöhne und schlechte Arbeitsbedingungen waren Ende des 19. Jahrhunderts in Chicago üblich. Immer mehr Menschen kritisierten die sozialen Missstände und schließen sich Gewerkschaften an. Nach einer Bombenexplosion im Mai 1886 werden vier Gewerkschafter hingerichtet, darunter auch drei deutsche Einwanderer.
In der Nacht zum 11. November 1887 erklingt im Gefängnis von Chicago ein Lied. Der zum Tode verurteilte Albert Parsons stimmt in seiner Zelle die schottische Ballade "Annie Laurie" an. Ein Liebeslied, gesungen von einem radikalen Sozialisten in seinen letzten Stunden. Wenig später steht Parsons vorm Galgen. Als ihm die Schlinge um den Hals gelegt wird, erwacht in ihm ein letztes Mal der Arbeiterführer. Er ruft den Anwesenden zu:

Darf ich sprechen, oh Männer Amerikas? Lasst mich reden, Sheriff Matson. Lasst alle die Stimme des Volkes hören.

Mehr kann Parsons nicht mehr sagen. Die Falltür öffnet sich und er stirbt gemeinsam mit drei Weggefährten durch den Strick. Parsons sowie die deutschen Einwanderer Adolph Fischer, George Engel und August Spies waren nach heutigem Rechtsverständnis unschuldig, aber sie waren unbequem. Radikale Linke im Zentrum des Kapitalismus.

Chicago gegen Ende des 19. Jahrhunderts: In den Fabriken der Stadt schuften die Arbeiter für Hungerlöhne. Im Winter 1885 haben fast 40 Prozent gar keinen Job. Und täglich erreichen neue Einwanderer die Stadt mit ihren wachsenden Slums. Die deutschsprachige Chicagoer Arbeiterzeitung schreibt:

Samstagnacht machte ein Zeitungsjunge auf eine Familie aufmerksam, die ihre Wohnung in einer Scheune aufgeschlagen hatte. Die Familie bestand aus einer Frau mit vier Kindern. Kein wärmendes Feuer und kein Bissen Nahrung befand sich in der Scheune. Die Kinder waren beinahe nackt.

Immer mehr Chicagoer kritisieren die sozialen Missstände und schließen sich Gewerkschaften an. Sie fordern kürzere Arbeitszeiten und singen auf Kundgebungen das Lied vom Acht-Stunden-Tag.

Doch eine breite linke Massenbewegung entsteht in den USA nicht. Einige Sozialisten glauben, ihre Forderungen seien nicht radikal genug. Zu ihnen gehört auch Albert Parsons, der sich zum Anarchismus bekennt.

Der Anarchist glaubt an Frieden, aber nicht auf Kosten der Freiheit. Er glaubt, dass Gesetze nur dazu dienen, die Menschen zu Dingen zu zwingen, die sie normalerweise nicht tun würden. Deshalb versteht er alle politischen Gesetze als Gewalt gegen das Naturrecht und gegen die Grundrechte der Menschen.

Parsons organisiert Streiks und Kundgebungen – zum Beispiel auf dem Haymarket, einem Marktplatz im Zentrum Chicagos. Anfang Mai 1886 demonstrieren dort Zehntausende. Es sind die größten Arbeiterproteste in der amerikanischen Geschichte. Bald kommt es zu Rangeleien mit der Polizei. Eines Abends explodiert eine Bombe und tötet sieben Menschen. Der Bombenwerfer entkommt unerkannt. Doch die Polizei glaubt, die Anstifter des sogenannten Haymarket-Massakers zu kennen. Acht Gewerkschafter und Anarchisten sollen sich vor Gericht verantworten – unter ihnen Albert Parsons. Die Jury ist parteiisch, die Anklage gnadenlos:

Diese Männer wurden ausgewählt und angeklagt, weil sie Anführer sind. Sie sind nicht unschuldiger als die Tausenden, die ihnen Gefolgschaft leisten. Verehrte Geschworene: Verurteilen Sie diese Männer, statuieren Sie ein Exempel an ihnen, hängt sie auf und rettet damit unsere Institutionen, unsere Gesellschaft.

Obwohl keinem der Angeklagten eine Beteiligung am Bombenanschlag nachgewiesen werden kann, werden alle schuldig gesprochen. Ihre politische Propaganda, so der Richter, habe den Täter inspiriert. Dabei ist bis heute unklar, ob es überhaupt ein Anarchist oder Gewerkschafter war, der die Bombe gezündet hat. Alle acht Angeklagten werden zum Tode verurteilt. Einer begeht in seiner Zelle Selbstmord.
Wenn ich nicht ein Anarchist gewesen wäre, dann hätten mich das Gericht und die Gesetze der Herrschenden dazu gemacht.

Schreibt Albert Parsons vor seiner Hinrichtung. Auf ein Gnadengesuch verzichtet er, im Gegensatz zu drei Mitverurteilten. Ihr Strafen werden in lebenslängliche Haft umgewandelt. Sechs Jahre später kommen sie frei. Der Gouverneur von Illinois begnadigt die drei Männer, weil er von ihrer Unschuld überzeugt ist. Zur Erinnerung an die Hingerichteten und zum Gedenken an die Mai-Proteste in Chicago beschließt der Pariser Sozialistenkongress 1889 einen internationalen Protest- und Gedenktag. Es ist der Beginn der jährlichen Mai-Kundgebungen.