Protokoll einer Spurensuche

Rezensiert von Carsten Hueck · 15.06.2006
Eine Israelin auf Spurensuche in Berlin. Eigentlich wollte Ayelet Bargur einen Film machen. In Deutschland fand sie keinen Produzenten, dafür aber einen Verleger. In ihrem Buch "Ahawah heißt Liebe" erzählt die Autorin die Geschichte des jüdischen Kinderheims "Ahawah" in der Berliner Auguststraße. Ein Versuch, die eigene Geschichte und die ihres Landes besser zu verstehen. Und zugleich ein Kapitel Berliner Stadtgeschichte.
Unweit von Haifa, im kleinen Ort Kiriat Bialik, liegt das Kinderheim "Ahawah", ein Zuhause für 170 Kinder im Alter zwischen sechs und achtzehn Jahren. Sie kommen aus wirtschaftlich und sozial benachteiligten Familien und sollen hier ein liebesvolles neues Zuhause finden. Das verrät auch der Name: "Ahawah" heißt auf Deutsch "Liebe". Gegründet wurde dieses Heim vor mehr als 70 Jahren und zwar nicht in Haifa, sondern in Berlin. Hier hat es seine Wurzel und von hier hat es auch seinen Namen.

Die israelische Künstlerin und Filmemacherin Ayelet Bargur erzählt in ihrem Buch die Geschichte dieses Kinderheims. Sie dokumentiert damit ein Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte wie auch ihrer eigenen Familiengeschichte: Die Vorfahren der Autorin lebten im Rheinland. Erst ihr Vater kam 1936 im britischen Mandatsgebiet Palästina, dem späteren Israel, zur Welt. Im Alter von zwölf Jahren recherchierte Ayelet Bargur in der Schule den Stammbaum ihrer Familie. Der Vater erzählt von seiner Tante, Beate Berger, einer ausgebildeten Krankenschwester, die 1922 die Leitung eines Heims für jüdische Flüchtlingskinder und Waisen in der Berliner Auguststraße übernahm. Mit großem Engagement und von den Erkenntnissen moderner Pädagogik überzeugt, verwandelte sie das Armenhaus in eine Institution jüdischer Sozialhilfe und Erziehung. 1924 erhielt es seinen Namen: "Beit Ahawah" - Haus der Liebe.

Zunächst vergaß Ayelet Bargur diese Geschichte, bis sie im November 2001 zum ersten Mal Berlin besucht und auf einem Stadtrundgang zufällig eine Gedenktafel entdeckt: Ihre Urgroßtante Beate Berger ist darauf abgebildet - Ayelet Bargur steht vor dem Gebäude des ehemaligen "Beit Ahawah". Zwei Jahre später kehrt die israelische Künstlerin mit einem Stipendium des DAAD nach Deutschland zurück. Sie will die Geschichte des Hauses und ihrer Verwandten dokumentieren.

"Ahawah heißt Liebe" ist Oral-history und Dokumentation. Ayelet Bargur hat nicht nur historische Fakten zur Genese des Kinderheims gesammelt, sondern auch viele ehemalige Heimkinder interviewt. Deren persönliche Erinnerungen an das "Beit Ahawah" nehmen verdienterweise viel Raum im Buch ein. Durch sie und viele Fotos aus Privatbesitz wird die Vergangenheit atmosphärisch nachvollziehbar, der Alltag in der Auguststraße erscheint ebenso plastisch wie die politischen Verhältnisse und Lebensumstände für Juden im Berlin der 30er Jahre. Durch geschickte Verteilung solcher Passagen auf das ganze Buch macht die Autorin Geschichte hörbar. Man erfährt etwas über die - für die damalige Zeit extrem fortschrittliche - Heimerziehung, über Berliner Stadtgeschichte, sowie über Fortsetzung und Neuanfang zionistischer Jugendarbeit in Palästina.

Gleichsam parallel entsteht ein sehr persönliches, vielstimmiges Porträt der Heimleiterin Beate Berger. Es ist eingerahmt von Biografien ihrer ehemaligen Zöglinge, den noch lebenden Zeitzeugen. Spürbar ihre Dankbarkeit gegenüber "Schwester Oberin", wie Beate Berger genannt wurde. Denn die resolute Pädagogin reagierte unmittelbar auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten: 1933 bemühte sie sich um eine Verlegung des Kinderheims nach Palästina. Durch unermüdlichen persönlichen Einsatz und mit Unterstützung prominenter Förderer wie Max Liebermann, Martin Buber oder Hermann Struck, gelang es ihr, das "Beit Ahawah" in Kiriat Bialik neu aufzubauen. 1936 wurde es offiziell eröffnet. Bis zu ihrem Tod 1940 rettete Beate Berger die Hälfte der Berliner Ahawah Kinder und brachte die in Deutschland entwickelte Sozialarbeit für Jugendliche nach Erez Israel.

Ayelet Bargur ist um Sachlichkeit bemüht - traut ihr aber nicht ganz. Neben das dokumentarische Material stellt sie kleine, fiktive Szenen, beschreibt "Stimmung". Ein bisschen kitschig ist das, vor allem aber überflüssig. Umso erfreulicher der Essay des Kulturwissenschaftlers Joachim Schlör. Unter dem Titel "Eine Berliner Tiefenbohrung" ergänzt er Bargurs Text vielschichtig. Schlör eröffnet mit großer literarischer Sensibilität, sich tatsächlich in die Tiefe jüdischer Geschichte Berlins bohrend, den weiteren historischen Kontext für Bargurs Dokumentation. Dank dieses Essays kann man in der Geschichte des "Beit Ahawah" ein beispielhaftes Kapitel der stets lebendigen deutsch-jüdisch-israelischen Geschichte erkennen.

Ayelet Bargur: Ahawah heißt Liebe. Die Geschichte des jüdischen Kinderheims in der Berliner Auguststraße
Aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch und Thoralf Seiffert.
Deutscher Taschenbuch Verlag
240 Seiten, 14,50 Euro