Per Olovs Reise

Von Martin Buchholz |
Per Olov Enquist ist einer der bekanntesten schwedischen Schriftsteller. Der 74-Jährige wurde von seiner Mutter sehr religiös erzogen - sollte nach ihrem Willen Pastor werden. Die Erinnerungen an seine fromme Kindheit verarbeitet er in seinem aktuellen Buch "Ein anderes Leben".
"Da er das einzige Kind ist, der eingeborene Sohn, hat die Mutter also eine Erwartung. Wenn alles sich zur Vollendung fügt, wird er als Pastor enden. Das ist schon früh klar. Er soll Verkünder werden!"

Enquist: "Ich bin ziemlich alt, ich bin 74 Jahre alt und das lange, ein bisschen dramatische Leben gehabt. Und am Ende fragt man sich: Wie hängt es zusammen? Und: Warum? Mein intelligente Hund hat andere Formen von Intelligenz, aber er fragt niemals: warum?"

"Weshalb die Beklemmung? Warum wehrt er sich auch gegen die Mutter? Diese beginnende Widerspenstigkeit! Er betrachtet sich selbst durch sie und fängt an, sich Fragen zu stellen."

Per Olov Enquist ist nicht Pastor geworden, sondern Schriftsteller – einer der wichtigsten in Schweden. In seinem aktuellen Roman erzählt er von sich selber – in der dritten Person. Als beobachte er "ein anderes Leben". So heißt das bewegende Buch. Die Suche nach dem inneren Zusammenhang einer bewegten Biografie.

"Wenn alles so gut ging, wie konnte es dann so schlimm werden?", fragt Enquist und lässt den Leser ahnen, dass noch dunkle Kapitel folgen werden auf das, was in den 1930er-Jahren 1000 Kilometer nördlich von Stockholm beginnt – in Hjoggböle. Das verschlafene 80-Seelen-Dorf hat fünf Schriftsteller hervorgebracht. Darunter auch den kleinen "Per Ola", dessen Vorfahren allesamt Bauern und Holzarbeiter waren.

Enquist: "Es gibt keine Kino, es gibt keine Theater, es gab damals kein Fernsehn. Ich habe keine Spielkameraden, die wohnten zu weit weg entfernt. Aber es gibt eine riesengroße Wald und Bäume. Das war wie eine lebendige Einsamkeit. Man lernt, sein Fantasie zu ausnützen, fast eine fiktive Welt zu finden, zu schaffen und so weiter."

"I furuskogen" – ein melancholisches Lied über Schwedens endlose Kiefernwälder. Im Schutz der Bäume führt Per Ola die ersten Zwiegespräche – mit seinem Vater, der im Alter von 31 Jahren an einer mysteriösen Krankheit gestorben war. Da war sein Sohn sechs Monate alt. Die Mutter gab dem Kind einen Zettel, die letzte handgeschriebene Botschaft des Vaters: "Per Ola, werde Christ!" war darauf zu lesen.

Enquist: "Ich hatte keine Vorstellungen, wie ein Vater sein sollte. Und da hab ich mich vorgestellt – mein Vater war ein sehr netter Mann, sehr kluger Mann – er sitzt im Himmel auf Gottes rechte Seite und man könnte ihm Fragen stellen. Man könnte mit ihm Konversationen haben, sagen, warum man hatte so eine Angst. Er war eine, ja ein Schützengel."

Den verständisvollen Schutzengel hat das Kind bitter nötig. Die Mutter erzieht den Jungen in strenger pietistischer Frömmigkeit. Angst vor Hölle und ewiger Verdammnis bereiten ihm schlaflose Nächte. Aber Per Ola lernt, dass Jesus barmherzig Sünden vergibt, wenn man sie offen bekennt. Einmal pro Woche möchte die Mutter diese Beichte hören. Doch ihr Junge ist so brav, dass ihm partout keine Sünde einfällt. Um die Mutter nicht zu enttäuschen, erfindet er eine. Er bekennt unter Tränen, er habe im Laden ein Bonbon gestohlen. Die Mutter ist erschüttert, aber gerührt. Danach geht sie zum Besitzer des Ladens, um sich für den Diebstahl zu entschuldigen…

"Der Konsumvorsteher reagiert völlig verständnislos: Die beiden Bonbondosen werden hinter der Theke auf einem so hohen Regal aufbewahrt, dass das Kind sie unmöglich erreicht haben kann, wenn es nicht von himmlischen Mächten hochgehoben worden ist. Und die Geschichte stellt sich als lügenhaft heraus. Die Mutter kehrt mit finsterer Miene zurück, sagt, dass er sie blamiert habe, und nach einem sehr kurzen Prozess gesteht das Kind, dass es gelogen hat. Kniefall, Jesus Christus und so weiter…"

"Loftena kunna" – in Schweden ist dieser Choral berühmt. Geschrieben hat ihn Lewi Pethrus, der Begründer der schwedischen Pfingstbewegung – eine protestantische Freikirche, die Anfang des 20. Jahrhunderts mit ihrer Betonung emotional erfahrbarer Frömmigkeit in Skandinavien folgenreich für Furore sorgte. In seinem Roman "Lewis Reise" hat Enquist die Wirkungsgeschichte des Kirchengründers Lewi Pethrus kritisch gewürdigt.

Enquist selber wuchs in einem ähnlichen Milieu auf: Sein Dorf war geprägt von der sentimentalen Jesus-Frömmigkeit der Herrnhuter Brüdergemeine, einer pietistischen Glaubensbewegung, die im 18. Jahrhundert aus der Oberlausitz bis hoch in den Norden Schwedens gekommen war.

"Man sang die Kirchenlieder mit klagender, fast verzweifelter Langsamkeit, das Erdenleben war eine Qual, die Sünde wie ein Steinsack. Das Tempo war unerträglich schleppend, wie um an Jesu Leiden am Kreuz zu erinnern, aber gleichzeitig waren Jesu Wunden der freudige Schlusspunkt."

Enquist: "Das ist eine Form von sehr irrationellen Blutsmystik. Wir spielten in Jesu Wunden, das Blut war sehr warm, und man konnte in Jesu Blut baden."

Die Wunden waren ganz und gar nichts Schmerzhaftes, nein, sie öffneten sich fast vaginal, Spalten gleich, die es zu penetrieren galt, oder in jedem Fall, um darin zu ruhen – wie umklammert von feuchten Häuten. Dort, vor allem, befand sich die Quelle des lusterfüllten Lebenstrunks der Herrnhuter, also Jesu Blut.

Enquist: "Meine Kritiker von die Erweckungsbewegungen und Pfingstbewegungen, die können alle Kritik akzeptieren von mir, aber nur (…) die sagen nur: ‚Ah, no, no, no! Du kannst nicht sagen, es gibt eine sexuelle Unterton!’ Und es ist offenbar! Ganz klar! Es gibt eine sexuelle Unterton. Aber die Sexualität in Religion, das ist gefährlich."

Gefährlich für seinen Glauben empfindet die Mutter auch, dass ihr Sohn Per Ola entscheidet als erster aus der Familie das Gymnasium zu besuchen und später zu studieren. Eine folgenreiche Entscheidung. Ganz undramatisch und allmählich, erzählt Enquist, geht ihm sein Kinderglauben verloren. Er wird, nach mehreren Rückschlägen, ein erfolgreicher Schriftsteller. Seine neue Welt sind Schwedens kritische Intellektuelle. Wie der Filmemacher Ingmar Bergman oder der Politiker Olof Palme. Enquist schreibt über sich selber: "Er hat die Angst des Glaubens vergessen. Er hat die Hitze des politischen Rätsels gefunden."

Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor der Tür eines Spiegel-Redakteurs und hören von drinnen inbrünstigen Gesang. So ergeht es Enquist in den 1960er-Jahren, als er Bo Strömstedt besucht, den Kulturredakteur einer großen schwedischen Tageszeitung. Lauthals intoniert der Mann in seinem Büro auf einer kleinen Orgel fromme Choräle.

Enquist: "Dieser Kulturredakteur – und später Chefredakteur übrigens – er kam von eine pietistische Milieu in Smalland. Und es gibt ein Menge Leute in die Medienindustrie, die spielen diese Psalmen und die sind geprägt von diese Milieu. Und das ist nicht so überraschend."

"Die Leute der Erweckungsbewegung trifft man ja überall", notiert Enquist. Und er selber? Was ist ihm geblieben vom Glauben seiner Kindheit?

Enquist: "Ich bin doch eine rationale Mensch. Ich denke nicht, es gibt eine Gott mit lange Bart. Ich glaube nicht an Himmel oder Hölle. Ich meine, dass dieses Welt, wo ich lebe, das ist es, und dann ist es Schluss. Aber man kann nicht sich so wahnsinnig verändern. Die ersten 20 Jahre in mein Leben war ich so vollständig in eine religiöse Welt, lebte in einer religiösen Welt, und das sitzt im Rücken, das sitzt im Magen, das ist in Füße, das ist überall!"

Die existentiellen Fragen seiner frommen Heimat, meint Enquist, seien die richtigen gewesen. Nur die fundamentalistischen Antworten nicht. Ende der 70er Jahre aber erinnert er sich wieder an die Mahnungen seiner Mutter, die jahrzehntelang als Dorfschullehrerin gearbeitet hat.

Enquist: "Sie hat einen Text geschrieben über Sibelius – der finnische Kompositeur Sibelius, der sehr berühmt war. Aber der arme Sibelius war von Alkohol eingefangen. Und er versuchte, achte Sinfonie zu schreiben, und er versuchte 40 Jahre und konnte kein Note schreiben. Und das war der schreckliche, schreckliche Vorbild: Man sollt niemals einen Tropfen Alkohol trinken."

Wie ein langsames, unaufhaltsames Ertrinken, so beschreibt Enquist die eigene Alkoholsucht, die ihm Ende der 1970er-Jahre das Schreiben so gut wie unmöglich macht. Bis auf einen kurzen Roman und ein paar Theaterstücke bringt der einst gefeierte Schriftsteller fast 13 Jahre lang nichts Nennenswertes zu Papier. Die Tragödie des Komponisten Sibelius wird zu seinem persönlichen Trauma.

"Und er war entschlossen. Er würde jetzt seine Achte Sinfonie schreiben. (…) Doch es war wie verhext. Das Papier leer. Und er trank weiter. Es gab keine Gerechtigkeit und keinen Gott, und die Strafe war ewigkeitslang wie der Felsen im Meer. Und er war gefesselt, und wie er auch kämpfte, er kam nicht los. Und er sah jetzt ganz klar vor sich, dass es für ihn nie eine Achte Sinfonie geben würde."

Enquist: "Ich habe alles gelesen über Alkohol und warum Leute trinken usw. Ich war diese schreckliche Form von Intellektuellen, die alles versteht und, hehe, alle Lösungen hat. Und das war sehr klar. Und ich habe mehr und mehr getrunken."

Nach mehreren gescheiterten Therapien findet er sich im Dezember 1989 auf Island wieder. Die nächste Entziehungskur. Enquist fühlt sich eingesperrt. Sogar die Schuhe hat man ihm genommen. Er beschließt zu fliehen. Im Schutz der Dunkelheit läuft er auf Socken durch den Schnee, hinaus in die eisige Kälte. Fern am Horizont hat er die Lichter von Häusern gesehen. Doch schon bald ist er am Ende seiner Kraft. Er legt sich in den Schnee. Und will aufgeben.

"So dachte er sich den Tod. Hatte ihn sich immer so gedacht: Überfroren, den Blick zum Sternenhimmel gerichtet. (…) War es nicht so, dass der Sterbende in den letzten Minuten durchkam, die wunderbare Macht des Erlösers erfuhr, Vergebung und Errettung und wunderbare Gnade erlangte? (…) Er fühlte, wie schön es war. Aber dennoch war da etwas, das nicht stimmte."

Enquist: "Diese Flucht in Finsternis und Schnee und Kälte, das ist ein Wunder, dass ich das überlebt habe! Aber ich glaube, das war die Wendepunkt. Und was da geschehen war: Es gibt etwas sehr Lebendiges innen in dir und dieser lebendige, kleine, kleine Kern sagte: ‚Get up on your feet!’ Und du musst gehen."

"Es war wie ein kleiner Knoten im Bauch, der nein sagte. Nein, nein, nein. Habe ich nicht die Reste meiner selbst zusammengesucht, um zu fliehen und habe ich nicht beschlossen, nicht aufzugeben, (…) und bin ich nicht trotz allem eine Art Mensch, wenn auch nur Küchenabfälle von mir übrig sind; (…) Er rollte herum, kam auf allen vieren hoch, stand eine Weile hechelnd wie ein Hund und wartete auf die Kraft."

Irgendwie erreicht Enquist die rettenden Häuser. Einen Monat später versucht er noch einmal, eine Entziehungskur zu machen. Was dann geschah, kann er sich bis heute nicht erklären.

Enquist: "Am Nacht habe ich angefangen, ein Buch zu schreiben, einen Roman, die heißt: ‚Kapitän Nemos Bibliothek’. Und ich habe diese Nächte in diese Behandlungsheim verstanden, dass ich noch schreiben konnte. Und das war eine fantastische Erlebnis."

Seit dieser Nacht vor 19 Jahren hat er keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken und in der Folgezeit seine erfolgreichsten Romane geschrieben. War das rettende Erlebnis ein Zufall? Hat Per Olov Enquist einfach Glück gehabt? Er selber schreibt: "Es war ein Wunder."

Enquist: "Ja! Und ich habe das geschrieben, und am nächste Morgen hab ich diese Wort angeguckt und sage: ‚P.O., du hast ‚Wunder’ geschrieben!’ Und so hat der andere P.O. in mir gesagt: ‚Ja, du hast ‚Wunder’ geschrieben. Ist das nicht allzu religiös?’ Und so hat der andere P.O. gesagt: ‚Ja, aber du hast das geschrieben. Und so bleibt es!’"

"Und er wusste, dass er gerettet war."

Mit diesem Satz endet der Roman. Welche Macht es war, die ihm das Leben neu geschenkt hat, das lässt Enquist offen. Zum christlichen Glauben seiner Kindheit hat er nicht zurückgefunden. Aber er sagt, manchmal beneide er seine Mutter ein wenig. Um die innere Gelassenheit, mit der sie zeitlebens auf ihren Gott vertraut habe.

Enquist: "Wenn ich jünger war, hab ich versucht, Religion mit sie zu diskutieren und zu sagen: ‚Das muss falsch sein!’ und so weiter. Sie muss denken! Mein Mutter muss denken! Aber das, hab ich verstanden, das war dumm! Ich muss ihre Religiosität, ihre Zutrauen, ihre Ruhigkeit, ihre Ruh akzeptieren! Und sie war glücklich gestorben!"

Und wie stellt sich Per Olov Enquist seinen eigenen Tod vor?

Enquist: "Ich habe 19 Jahre mehr gelebt eigentlich, als ich sollte! Und deshalb glaube ich, ich sollte mit Ruhe sterben!"