Paul Auster: "4321"

Über eine Gesellschaft in Aufruhr

Der Schriftsteller Paul Auster.
Der Schriftsteller Paul Auster. © dpa / EPA / XAVIER BERTRAL
Von Gabriele von Armin · 31.01.2017
In seinem Roman "4321" beschreibt Paul Auster ein Leben in vier Variationen – wie es war und wie es hätte gewesen sein können. Souverän und kraftvoll. Ein grandioses Werk, das Paul Auster sich und uns zu seinem 70. Geburtstag schenkt.
In jedem dicken Buch, hat der Kulturhistoriker Robert Darnton einmal gesagt, steckt ein dünnes, das schreit, ich will hier raus. In Paul Austers neuem, backsteindicken Roman mit insgesamt 1264 Seiten stecken gleich mehrere Bücher, die man aber auf keinen Fall getrennt voneinander lesen möchte, weil sonst zu viel der beeindruckenden Imagination und Kunstfertigkeit des Autors verloren ginge.
Vier Leben beschreibt Auster, oder besser gesagt: ein Leben in vier Variationen – wie es war und wie es hätte gewesen sein können. Und man staunt beim Lesen ob der spielerischen Eleganz und peniblen Akkuratesse, mit der hier vier verschiedene Lebensmöglichkeiten und Lebenswirklichkeiten in üppiger und detaillierter Raffinesse ineinandererzählt werden. Das erfordert auch vom Leser einige Konzentration, die man allerdings mit einer gewissen Nonchalance paaren sollte - um sich nicht zu grämen, wenn man auf Seite 798 unsicher ist, ob der momentane Held nun der Princeton-Student oder der Columbia-Student ist – oder der, der keine Lust aufs College hat.

Eine Reise tief hinein in den Auster-Kosmos

Archibald Ferguson, das ist der Name des Protagonisten, wird am 3. März 1947 in New Jersey geboren – genau einen Monat nach seinem Autor (der in wenigen Tagen, am 3. Februar, seinen 70. Geburtstag feiert). Kurz lernen wir die Einwanderungsgeschichte seiner Großeltern kennen, begleiten den Jungen durch die Fünfzigerjahre und erleben mit ihm die Tumulte der Sechziger.
Die vier Fergusons wachsen – wie ihr Erfinder und Autor – in New Jersey auf, lieben Baseball, Filme und Literatur. Mal quält Archie sich, mal tost er altklug durch die Krisen, mal bleiben seine Mutter und sein Vater verheiratet, mal sind sie geschieden und neu liiert, mal haben sie Geld, mal keins, mal liebt Ferguson Amy und sie ihn, dann wieder bleibt sie seine leider unberührbare Stiefschwester. Mal ist Ferguson ein dezidiert Frauen zugeneigter Mann, mal unsicher in seiner sexuellen Orientierung, mal glücklich schwul.
Die Reise durch die hormonellen, psychischen, politischen oder lyrischen Qualen des Heranwachsenden, geschrieben in einer klaren, einfachen und erdnahen Sprache, hat ein Tempo, eine Dringlichkeit (manche Sätze ziehen sich über mehr als eine Seite),und eine Tiefe, die mitreißt – und die noch einmal weit hineinführt in den Auster-Kosmos: Manche Geschichten kennt man schon in anderen Versionen aus früheren Romanen, was einem das schöne Gefühl der Vertrautheit einflüstert.

Bildungsroman und Geschichtsbuch

Das Buch ist ein Bildungsroman: Immer lernt Ferguson, ist bildungshungrig, liest, schreibt oder übersetzt französische Lyrik. Auf angenehm gelassene Weise führt Auster uns vor, wie er der wurde, der er ist. Archie Ferguson liest Prosa, Lyrik, Geschichte, Philosophie. Meist ist er überdies politisch wach, ist mittendrin in der Studentenrevolte, den Rassenunruhen, den Protesten gegen den Vietnamkrieg, und so ist der Roman auch ein großartiges Geschichtsbuch über das studentische und politische Klima Amerikas in den Sechzigerjahren, über eine Gesellschaft in Aufruhr.
"4321", den Titel muss man "4 - 3 - 2 - 1" lesen beziehungsweise hinunterzählen: Drei Archies müssen sterben, damit einer übrig bleiben kann. Und am Ende gelingt Auster auch noch die Rondo-Form. Eine kleine Anekdote darüber, wie Fergusons Familie bei der Ankunft auf Ellis Island zu ihrem Namen kommt, wird am Anfang und 1240 Seiten später wieder erzählt – jetzt als die Idee, die Archie zu seinem neuen Roman inspiriert, eben den natürlich, den wir gerade gelesen haben.
Und so macht sich der letzte Archibald Ferguson auf den Weg nach Paris, um zu schreiben. Wo übrigens schon einer seiner Nebengänger gelebt und ein ganz anderes Buch verfasst hat. Das ist ein rasantes Spiel, in dem Auster souverän und kraftvoll die Bälle in mannigfaltige Richtungen wirft. Ein grandioses Werk, das er sich und uns zu seinem 70. Geburtstag schenkt.

Paul Auster: "4321"
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl, Rowohlt Verlag , Reinbek bei Hamburg 2017, 1264 Seiten, 29,95 Euro

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