Pädagogik

Mit Mutti zu Mathe

Von Susanne Arlt · 07.01.2014
Normalerweise gehen Kinder in die Schule und ihre Eltern zur Arbeit oder sie erledigen den Haushalt. Eine Grundschule in Berlin versucht andere Wege zu gehen: Dort drücken Kinder und Eltern gemeinsam die Schulbank.
Gül Özmen winkt ihrem Sohn zum Abschied, dann nimmt sie ihre siebenjährige Tochter Hayel an die Hand und läuft die Hauptstraße entlang. Der Weg zur Grundschule ist nicht weit, Hayel geht ihn manchmal auch allein. Heute aber nicht. Heute drücken Mutter und Tochter gemeinsam die Schulbank.
Gül Özmen: "Hayel, gib mir deine Hand ... Hayel, Hayel!"
Die ist störrisch, zieht ihre Hand schnell wieder weg.
Gül Özmen: "Nicht mich zu viel hören, was sie will, macht sie."
Auch darum nehmen beide an dem Projekt "Familien gehen zur Schule" teil. Das Jugendamt führt es seit einigen Jahren gemeinsam mit drei freien Jugendhilfe-Trägern und der Kurt-Tucholsky-Grundschule durch. Dabei werden Kinder wie Hayel, die keine Lust am Lernen haben, unkonzentriert sind, in der Klasse den Unterricht stören, in den ersten Schuljahren pädagogisch sehr intensiv betreut. Und Eltern wie Gül Özmen sollen den Pädagogen helfen.
Fünf Minuten später stehen die beiden in Hayles Klassenzimmer im ersten Stock.
Sotiria Poli: "Und wie geht es?"
Gül Özmen: "Gut! Selber auch?"
Sotiria Poli: "Auch gut."
Grundschullehrerin Sotiria Poli begrüßt Tochter und Mutter herzlich.
Sotiria Poli und Gül Özmen: "Mal sehen was heute Hayel zeigt uns. ... Na sie wird so sein, wie sie immer ist. Es kommt darauf an, wie sie mit ihr Arbeiten. Wie sie das erklären, wie sie das machen. Das machen wir schon."
In dem geräumigen Klassenraum hängen selbst gemalte Bilder der Kinder, auf zwei Fotos lächeln 20 Mädchen und Jungen. Wir machen keinen Frontalunterricht, erklärt die Lehrerin. Schülerinnen und Schüler der ersten und zweiten Klasse sitzen gemeinsam an fünf kleinen Tischgruppen. Hayal setzt sich auf ihren Platz, kramt in ihrem Rucksack, holt eine Bürste heraus und fährt sich damit durch die langen braunen Haare. Die Mutter schüttelt vorwurfsvoll den Kopf, lässt es aber geschehen. Frau Poli ist da resoluter.
Spielerisch mit Problemen konfrontieren
Seit zwei Jahren unterrichtet Sotiria Poli die siebenjährige Hayel. Sie ist ein aufgewecktes Mädchen, aber keine einfache Schülerin - und in ihren schulischen Leistungen hinkt sie deutlich hinter. Das Jugendamt schlägt der Familie schließlich vor, bei dem neuen Projekt mitzumachen. Zweimal in der Woche darf Hayal für zwei Stunden den regulären Schulunterricht verlassen. In dieser Zeit kümmern sich zwei Sozialarbeiter intensiv um sie und fünf andere auffällige Kinder. Sie üben gemeinsam autogenes Training, sprechen mit den Kindern über ihre Gefühle, konfrontieren sie spielerisch mit ihren Problemen.
Ein anderer, genauso wichtiger Bestandteil des Projekts sind die Eltern der Kinder, erklärt Sotiria Poli. Meistens drücken die Mütter gemeinsam mit ihren Kindern die Schulbank.
Sotiria Poli: "Die Mütter sollen doch lernen, wie sie ihren Kindern auch helfen können. Sollen Erfahrungen machen, wie arbeitet mein Kind in der Schule, wo kann ich helfen. Habe ich das selber verstanden, wo brauche ich selber noch Hilfe durch die Lehrerin. Das lernen sie alles in dieser Stunde."
Während die anderen Mütter ihren Kindern einen letzten Kuss auf die Wange drücken und den Klassenraum verlassen, setzt sich Gül Özmen auf den Kinderstuhl neben ihre Tochter. Die Kinder können frei wählen. Rechnen, Schreiben, Lesen - wonach ihnen gerade ist. Hayel aber bekommt eine Aufgabe. Sie soll mit Hilfe von roten und blauen Plättchen das Addieren leichter lernen. Besonders begeistert schaut sie nicht aus. Diesmal aber bleibt ihre Mutter hart. Und Sotiria Poli unterstützt sie dabei.

Sotiria Poli: "Da stärke ich Hayel, zeige ihr, wo ihre Grenzen sind, was sie nicht machen darf. Und stärke die Mutti, dass sich die Mutti klar durchsetzt. Und sie muss dann Hayel mal nett zwingen in Anführugsstrichen bei der Sache zu bleiben."
Sotiria Poli mag es gar nicht, wenn ihre Schüler untereinander Türkisch oder Russisch reden. Das gilt natürlich auch für Hayels Mutter.
"Mutti wir reden nicht türkisch in der Schule"
Gül Özmen und Sotiria Poli: "Mutti wir reden nicht türkisch in der Schule. Da müssen wir uns jetzt ein bisschen anstrengen ... verboten Türkisch. ... Das geht nicht und Hayel antwortet auch nicht auf Türkisch."
Die Mutter nickt. Aber es fällt ihr schwer, immer deutsch zu sprechen. Gül Özmen stammt aus Izmir. Zuhause, sagt sie, sprechen wir immer türkisch. Zuhause ist das auch in Ordnung, entgegnet die Lehrerin. Aber eben nicht in der Schule. Gül Özmen versteht das. Auch sie konzentriert sich jetzt, versucht, ihrer Tochter ein Vorbild zu sein.
Gül Özmen: "Ja ich brauche wegen Hayel auch etwas Hilfe. Ich sage, aber ich reicht nicht. Immer gleiche, was ich sage, will machen, aber macht es nicht. Aber wenn Fremde, dann immer besser hören. Deswegen wir haben zusammengearbeitet."
Geduldig erklärt sie ihrer Tochter die Rechenaufgabe mit den roten und blauen Plättchen. Zuhause sollen die beiden weiterüben. 20 Minuten täglich reichen, sagt Lehrerin Sotiria Poli und schaut zufrieden aus. Mutter und Tochter haben im vergangenen Jahr viel dazugelernt, sagt sie. Und den Sprung in die dritte Klasse schafft Hayel bestimmt.
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