Osteuropa und die Flüchtlinge

Erinnerungen an die Türkenkriege

Ungarn schließt seine Eisenbahnübergänge zu Kroatien.
Ungarn schließt seine Eisenbahnübergänge zu Kroatien. © ©smail Azri/Wostok Press/dpa
Martin Schulze-Wessel im Gespräch mit Dieter Kassel · 07.03.2016
Warum ist in Osteuropa die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, deutlich geringer als bei uns? Der Osteuropa-Kenner Martin Schulze-Wessel sieht dafür vor allem historische Gründe.
Die Gesellschaften in osteuropäischen Ländern, sonst zum Teil tief gespalten, zeigen bei einer Sache große Einigkeit: Die Aufnahme von Flüchtlingen wird abgelehnt. Vor allem die Bereitschaft, Menschen muslimischen Glaubens ins Land zu lassen, sei schwach ausgeprägt, sagte der Münchner Osteuropahistoriker Martin Schulze-Wessel im Deutschlandradio Kultur.
Das habe weit zurückreichende Ursachen: So würden selbst noch die Türkenkriege erinnert, als sich Länder wie Ungarn oder Polen als Bollwerk der Christenheit verstanden. "Das ist tief in den Gedächtnissen drin", betonte er. Auch der Zweite Weltkrieg spielt eine Rolle: Städte wie Lemberg oder Prag seien vor dem Krieg sehr multikulturell gewesen.
Erst durch Holocaust und Vertreibung entstanden in den Gesellschaften "homogene Verhältnisse" – und genau diese führten oft zu Fremdenfeindlichkeit. Später, als sich die Länder dann vom Sowjet-Block abspalteten, erfolgte dies vor allem unter Bezug auf die eigene Identität und Geschichte – möglicherweise ein weiterer Grund, warum Flüchtlinge in den Köpfen wenig Platz finden.

Das Gespräch im Wortlaut:

Dieter Kassel: Die Wahlen in der Slowakei haben es am Wochenende noch einmal deutlich gezeigt: Die Menschen ist Osteuropa oder, genauer gesagt, in den EU-Mitgliedsstaaten, die früher Teil des Warschauer Pakts waren, sie wollen keine Flüchtlinge aufnehmen. Eine Verteilung nach festem Schlüssel, nach Vorgaben der EU, ist ihnen ein Graus.
Immer mehr Experten suchen dafür nach historischen Gründen, zum Beispiel hat der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev in der vergangenen Woche diese Gründe gesucht und ist zum Teil sehr weit zurückgegangen in die Geschichte.
Auch wir wollen uns jetzt mit einem möglichen geschichtlichen Zusammenhang beschäftigen, und zwar im Gespräch mit Martin Schulze-Wessel. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Universität München. Schönen guten Morgen, Herr Schulze-Wessel!
Martin Schulze-Wessel: Schönen guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Ich finde es immer ganz sinnvoll, bevor man nach Ursachen sucht, erst mal ganz klar zu klären, welches Phänomen man überhaupt meint. Welche Aussage würden Sie denn eher zustimmen: Sind die Menschen in Osteuropa fremdenfeindlicher als im Westen, sind sie ängstlicher, oder sind sie vielleicht auch aus geschichtlichen Gründen nur sehr viel vorsichtiger?

Auch Dänemark und Frankreich wollen keine Flüchtlinge

Schulze-Wessel: Schwer zu sagen. Da kommt sicher Verschiedenes zusammen. Zunächst muss man sehr deutlich sagen, auch im Westen, sagen wir in Dänemark oder in Frankreich, gibt es keine große Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen.
Einen eindeutigen Ost-West-Gegensatz gibt es da nicht, aber zugleich ist der Befund eindeutig, dass die Gesellschaften im östlichen Europa, die sonst in vieler Hinsicht gespalten sind, eine große Einigkeit haben, wenn es um die Ablehnung der Aufnahme von Flüchtlingskontingenten geht.
Kassel: Aber wie weit muss man zurückgehen, um historische Begründungen zu finden, Jahrhunderte, wie es Ihr Kollege schon gemacht hat, in die Zeit des Warschauer Pakts, oder vielleicht sogar nur in die 90er-Jahre?
Schulze-Wessel: Das Erstaunliche ist, und auch das Enttäuschende, so wie es Bundespräsident Gauck formuliert hat, dass diese Gesellschaften Länder sind, die selbst in der Zeit des Sozialismus viele Flüchtlinge hatten. Nach dem Prager Frühling beispielsweise sind viele, viele Tschechen nach Deutschland und in andere Länder gekommen. Diese Länder kennen das Phänomen des Flüchtlings, und sie haben auch aus anderen europäischen Ländern durchaus Flüchtlinge oder Migranten aufgenommen, etwa aus der Ukraine.

Ungarn und Polen waren das Bollwerk der Christenheit

Es gibt offenbar eine schwache Bereitschaft, Menschen aufzunehmen muslimischen Glaubens. Das hat sicherlich sehr weitreichende, weit zurückreichende Ursachen. Die Türkenkriege sogar werden da noch erinnert, als sich Länder wie Ungarn oder Polen auch als Vormauer der Christenheit bezeichnet haben. Das ist tief in den Gedächtnissen drin.
Zugleich gibt es natürlich ganz andere Ursachen, die man politisch oder auch sozial fassen muss: Es handelt sich um Länder, die selbst viele Auswanderer haben, also gut qualifizierte Menschen, die ihre Chancen anderswo sehen, und zwar zu Hunderttausenden pro Jahr. In einer solchen Situation ist es schwer, dann für die Bevölkerung, das Land aufgesiedelt zu sehen mit Flüchtlingen.
Kassel: Was ich immer wieder interessant finde, Professor Schulze-Wessel, ist dieser Vergleich, den Sie selber auch schon angestellt haben: Sie haben zu Recht gesagt, dass es eigentlich in allen europäischen Ländern Fremdenfeindlichkeit und eine Ablehnung den Flüchtlingen gegenüber gibt – in dem einen Land mehr, in dem anderen weniger –, aber wenn wir uns Länder – Sie haben die Beispiele genannt – wie Dänemark und Frankreich angucken, auch Großbritannien, dort leben natürlich schon sehr, sehr viel mehr Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund als die ethnischen Franzosen oder Briten. Wenn man sich Osteuropa anguckt, Polen zum Beispiel, ich glaube, 95, 96 Prozent der Einwohner des Landes sind ethnische Polen, da könnte man natürlich in der einfachen Logik sagen, die haben doch viel weniger Grund, Angst vor irgendeiner Form von Überfremdung zu haben.

Homogene Verhältnisse führen oft zu Fremdenfeindlichkeit

Schulze-Wessel: Ja, oft ist es ja gerade umgekehrt, dass homogene kulturelle Verhältnisse gerade zu Fremdenfeindlichkeit führen, und das Besondere an dieser Situation ist, dass diese Länder vor dem Zweiten Weltkrieg in hohem Maße multikulturell waren.
Wenn Sie an Städte wie Lemberg denken oder auch Prag und Brünn, das sind Inbegriffe von multikulturellen Verhältnissen gewesen. Der Zweite Weltkrieg hat da alles geändert, also einmal durch den Holocaust, durch die Bevölkerungspolitik des Nationalsozialismus, und dann nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Vertreibung. Da sind dann homogene Verhältnisse entstanden, die für diese Länder eigentlich historisch nicht typisch sind.
Kassel: Das heißt, gerade deshalb ist es vielen da jetzt so wichtig, diese Verhältnisse auch so zu erhalten?
Schulze-Wessel: Genau, also diese Folgerung, denke ich, kann man ziehen, ja.
Kassel: Nun sagen viele Menschen in Deutschland auch, ich sehe natürlich Probleme, das kostet alles sehr viel Geld, die Integration wird nicht einfach werden, in manchen Fällen auch schlicht nicht gelingen, aber ich bin trotzdem für die Aufnahme von Flüchtlingen aus etwas, was man ganz simpel nennen kann, nämlich aus Mitleid, weil ich einfach Mitleid habe mit den Menschen, die um ihr Leben fliehen. Nicht alle, die zu uns kommen, tun das, aber viele schon. Da hat man oft das Gefühl, die Menschen in Osteuropa sind regelrecht kalt, die behaupten, wir schulden den Flüchtlingen nichts. Ist es gerecht zu sagen, das sind herzlose Menschen?

Auch in Osteuropa gibt es Mitleid mit den Flüchtlingen

Schulze-Wessel: Nein, natürlich nicht. Selbstverständlich gibt es universale Werte und auch ganz konkret Mitleid, auch in den Ländern des östlichen Europa. Die Gesellschaften in Deutschland oder Westeuropa sind doch selbst geteilt. Jeder oder die allermeisten Menschen empfinden auch hier Mitleid durchaus, aber die Zahl derer, die sich nun aktiv für Flüchtlinge einsetzen, ist zwar beachtlich groß, aber eben doch auch nicht umfassend. Eindeutige Zuschreibungen zu machen über Mitleid, das würde sicher völlig in die Irre führen.
Kassel: Der bereits erwähnte bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev hat auch gesagt, hinter dieser Ablehnung von Flüchtlingen in vielen osteuropäischen Staaten stecke auch die Ablehnung dieses kosmopolitischen Gesellschaftsmodells des Westens. Stimmen Sie dem zu, und wenn Sie es tun, bedeutet das nicht auch, dass eine Spaltung Europas gar nicht mehr aufzuhalten ist?
Schulze-Wessel: Der Soziologie hat da ein ganz gutes Argument gemacht. Er hat gesagt, die Abspaltung der osteuropäischen Gesellschaften aus dem Sowjetblock, die konnte eigentlich nur geschehen, indem man sich auf nationale Traditionen zurückbezogen hat. Man hat sich gegen die universale Ideologie des Sowjetstaates, den Sozialismus abgegrenzt, indem man sich auf Eigenes, auf Geschichte bezogen hat. Das hat sicherlich eine gewisse langfristige Wirkung auch gehabt.
Kassel: Wo liegen die Ursachen dafür, dass eine Mehrheit der Menschen – nicht alle natürlich, das haben wir auch gehört – in Osteuropa Fremden sehr kritisch gegenübersteht? Wir haben versucht, Antworten darauf zu finden im Gespräch mit Professor Martin Schulze-Wessel, Osteuropahistoriker an der Universität München. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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