Neuro-Doping unter Studierenden

"Großes Suchtpotenzial"

Die Grafik eines Kopfes, der mit Blitzen durchzogen ist.
Wer ständig Mittel nehmen muss, um die Anforderungen zu erfüllen, erzeugt ein Überbietungssyndrom, sagt Dieter Sturma. Die Erwartung sei, dass auch der Nächste das leisten könne. Dieser greife dann womöglich auch zu leistungssteigernden Mitteln. © imago / Science Photo Library
Dieter Sturma im Gespräch mit Dieter Kassel · 26.05.2017
Dank Pillen besser durch die Prüfung? Das praktizieren offenbar so viele Studierende, dass schon Dopingtests an Universitäten gefordert wurden. Der Neuroethiker Dieter Sturma lehnt das ab. Gleichwohl warnt er vor massiven Folgeschäden durch Neuro-Doping
Ein Aufruf eines britischen Studiendekans sorgte kürzlich für Aufsehen: Die Einnahme von leistungssteigernden Medikamenten unter Studierenden sei an seiner Universität so verbreitet, dass er Dopingtests vor Prüfungen vorschlage. Ganz so weit sei es in Deutschland noch nicht, meint Dieter Sturma: "Allerdings glaube ich, dass sich in (...) bestimmten Studienfächern eventuell Situationen beobachten lassen, die für die eine oder den anderen die Einnahme von Medikamenten zur Leistungssteigerung nahelegen."
Der Professor für Philosophie an der Universität Bonn erkennt ein "Überforderungssyndrom", mit dem sich die Universitäten auseinandersetzen müssten. Es gebe Fächer, die dafür anfälliger seien als andere. Jura zum Beispiel: "Es gibt (…) in den Rechtswissenschaften kaum jemanden, der kein Repetitorium macht oder kostenpflichtige Crashkurse neben dem normalen Studienbetrieb wahrnimmt, um natürlich die Aussichten für Prüfungen deutlich zu steigern." Aber das sei kein Doping.

"Ich täusche mich, und ich täusche andere"

Beim Neuro-Enhancement oder Neuro-Doping gehe es um manipulierte Eingriffe, die ethisch abzulehnen seien, weil sie gegen Gerechtigkeit- und Chancengleichheits-Grundsätze verstießen: "Dazu kommt, dass man sich auch durch die Einnahme von leistungssteigernden Mitteln in einen Zustand versetzt, der über die wahre Verfassung, in der ich mich befinde, hinwegtäuscht. Ich täusche mich, und ich täusche andere." Sturma warnt zudem: "Die Medikamente (…) haben natürlich ein großes Sucht- und Abhängigkeitspotenzial. (…) Und vom Sport wissen wir ja, mit welchen Folgeschäden da zu rechnen ist."

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Die Einnahme von Medikamenten zur geistigen Leistungssteigerung ist in Großbritannien inzwischen so verbreitet, dass ein Studiendekan an der Staffordshire University bereits die Einführung von Dopingtests vor Prüfungen vorgeschlagen hat. Das ist vermutlich eher eine Art Hilferuf als eine ernst gemeinte Anregung, aber auf jeden Fall ist es Grund genug, um über dieses Thema auch mal aus deutscher Sicht zu reden. Wir tun das jetzt mit Dieter Sturma, er ist Professor für Philosophie an der Universität Bonn und außerdem unter anderem Direktor des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften und Direktor des Instituts für Wissenschaft und Ethik. Schönen guten Morgen, Herr Sturma!
Dieter Sturma: Schönen guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Wie groß ist denn das Problem in Deutschland? Brauchen wir hier langsam auch Dopingtests an den Universitäten?
Sturma: Nein, wir brauchen keine Dopingtests in Deutschland. Die Situationen, die wir in England beschrieben bekommen, sind so bestimmt nicht vergleichbar. Ob das für ganz England gilt, will ich auch mal infrage stellen. Allerdings glaube ich, dass sich in bestimmten Bereichen, bestimmten Studienfächern eventuell Situationen beobachten lassen, die für den einen oder die andere die Einnahme von Medikamenten zur Leistungssteigerung nahelegen. Aber ein grundsätzliches Problem sehe ich in Deutschland bislang noch nicht. Und unabhängig davon sind Dopingtests aus rechtlichen Gründen eine ganz, ganz schwierige Sache und ich sähe das sehr ungern in Universitäten.
Kassel: Aber lassen Sie uns erst mal definieren, wo für Sie echtes Neuro-Doping, Hirn-Doping, wie auch immer wir es nennen wollen, beginnt. Ich meine, die Einnahme von Kaffee ist es noch nicht, wahrscheinlich auch ein Matedrink noch nicht. Aber wo beginnt denn das?
Sturma: Die Unterscheidung, die wir vor allem erst zu machen haben, ist die Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement. Die lässt sich relativ deutlich durchführen. Es gibt allerdings Fälle, wo wir nicht genau wissen, ob wir es schon mit therapeutischen Zielen zu tun haben, oder ob es darüber schon hinausgeht. Ein typisches Beispiel ist, wenn man Kleinwüchsigkeit als ein Problem definiert, denn es stellt sich die Frage: Wo fängt die denn an, bei wie viel Zentimetern? Und Therapie ist eben auf Heilung oder Abwehr von Leidenszuständen gerichtet, und die haben dann immer auch ein spezifisches Ziel, das man mit ganz bestimmten Zuständen verbinden kann.
Beim Enhancement geht es ja um die Steigerung von Leistungsfähigkeit. Auch die ist im Prinzip nur zu begrüßen, die kann man auf unterschiedlichstem Wege erreichen. Beim Neuro-Enhancement, oder wie man leider auch sagt: Hirn-Doping, was ich für einen ganz, ganz schlechten Begriff halte, geht es jetzt aber um manipulierte Eingriffe, die so etwas sind, was man auch Einwirkung auf sich selber nennen kann. Und die sind ethisch abzulehnen und auf die muss man sich konzentrieren. Die Fälle, die beschrieben werden jetzt bei den Prüfungssituationen, die eignen sich noch nicht so gut dafür, wirklich hier schon von Doping zu sprechen.

Verbreitetes Überforderungssyndrom an Universitäten

Kassel: Nun ist aber natürlich auch die Frage: Wie kommt es denn überhaupt, dass das alles offenbar zunimmt? Liegt das nur daran, dass die entsprechenden Präparate leichter zugänglich werden, oder liegt das nicht eher auch an den Bedingungen an den Universitäten, an den Lern- und Prüfungsbedingungen?
Sturma: Ich glaube, beide Punkte treffen zu. Die Zugänglichkeit scheint in einer dramatischen Art und Weise zuzunehmen, wo ich mich natürlich auch immer frage, wie das in dieser deutlichen Form eigentlich möglich ist. Aber das ist eine Sache, die können wir von außen schwer einschätzen. Das größere Problem, und mit dem sich dann auch die Universitäten auseinanderzusetzen haben, ist aber bestimmt das Überforderungssyndrom, was dort vorliegt, und da gibt es ganz bestimmt auch Fächer, die ich jetzt, um niemandem zu nahe zu treten, im Einzelnen nicht benennen möchte, die dafür anfälliger sind.
Das sind Fächer, wo Studierende mit großem Aufwand und auch mit großen Erwartungen unterwegs sind. Es gibt ja nun auch Studienfächer, wo die Studierenden erwarten, ein Einstiegsgehalt von 80.000 Euro oder so etwas … Und dann wird man natürlich in eine Situation gedrängt, die so einen Abschluss wirklich als etwas erscheinen lassen, wo es um alles geht. Und das ist bestimmt schlecht. Dazu kommt, Entschuldigung, wenn ich das noch erwähnen darf, …
Kassel: Ja, bitte.
Sturma: … dass komischerweise auch in diesen Fächern große Klagen kommen, was die lernpsychologische Begleitung angeht, was den Studienbetrieb angeht. Es gibt – das kann ich jetzt vielleicht ja doch mal sagen – in den Rechtswissenschaften kaum jemanden, der kein Repetitorium macht oder kostenpflichtige Crashkurse neben dem normalen Studienbetrieb wahrnimmt, um natürlich die Aussichten für Prüfungen deutlich zu steigern. Aber dagegen ist natürlich insofern nichts einzuwenden, weil das ja kein Doping ist.
Kassel: Aber um auf dieses Doping, das Neuro-Doping – ich habe jetzt begriffen, Hirn-Doping mögen Sie nicht –, also Neuro-Doping, oder noch korrekter Neuro-Enhancement zurückzukommen, da gibt es natürlich auch Stimmen, die sagen: Was soll daran so schlimm sein? Also, wenn wir wirklich die Möglichkeiten haben, Menschen klüger, Menschen leistungsfähiger, Menschen belastbarer zu machen, und gehen mal naiv davon aus, das hätte keine körperlichen Nebenwirkungen, dann spricht doch eigentlich nichts dagegen. Was spricht denn in Ihren Augen dagegen?

Verstoß gegen Gerechtigkeitsgrundsätze

Sturma: Ja, die körperlichen Beeinträchtigungen, die müssen wir schon bedenken. Das ist ein Argument, was man dagegen anführen muss. Vor allen Dingen die Medikamente, die dort verwendet werden, haben natürlich ein großes Sucht- und Abhängigkeitspotenzial. Das würde ich also nicht kleinreden. Und vom Sport wissen wir ja, mit welchen Folgeschäden da zu rechnen ist. Aber der, finde ich, wesentlich wichtigere Grund jetzt aus ethischer Sicht ist der, dass so eine Form von Gehirn-Doping gegen Gerechtigkeits- und Chancengleichheitsgrundsätze verstößt.
Das können Sie immer auch daran sehen, wie viel dort offengelegt wird und wie viel verheimlicht wird. Wenn Sie mich am Morgen fragen, wie viele Tassen Kaffee haben Sie denn schon getrunken oder so, weil ich vielleicht noch einen bisschen zerknitterten Eindruck mache, dann werde ich da natürlich offenkundig eine Aussage dazu machen. Das wird aber nicht jemand tun, der jetzt verbotene Substanzen genommen hat. Also, dieses Täuschen ist immer ein sehr, sehr guter Hinweis dafür, dass etwas hier im Argen liegt. Dazu kommt, dass man sich ja auch durch diese Einnahme von leistungssteigernden Mitteln in einen Zustand versetzt, der über die wahre Verfassung, in der ich mich befinde, hinwegtäuscht. Also, ich täusche mich und ich täusche auch andere. Das ist ja der Sinn des Verfahrens. Und deswegen ja auch die Heimlichkeit.
Und generell … und das betrifft wahrscheinlich weniger jetzt Schulen und Universitäten, weil das ja Prüfungssituationen, Ausnahmesituationen sind, mit denen wir es zu tun haben … aber im Berufsleben! Wenn ich ständig irgendwelche Mittel nehmen muss, um die Anforderungen, die man mir stellt, bewältigen zu können, dann erzeuge ich so ein Überbietungssyndrom, das so funktioniert: Ich kann das erfüllen, es wird erhöht, ich kann das wieder erfüllen und dann wird das vom Nächsten auch erwartet und auch der wird dann eventuell an einem Punkt zu solchen Mitteln greifen müssen. Also, das sind Szenarien und Modelle, die wir schon in anderen Bereichen kennen, diese vielen Überforderungssyndrome, und das halte ich für ethisch einen ganz gewichtigen Punkt. Also, diese Täuschungs- und Überbietungssyndrome.
Kassel: Sagt Dieter Sturma. Er ist Professor für Philosophie und Ethik in den Biowissenschaften, und wir haben mit ihm geredet über die Rolle des Neuro-Dopings an Universitäten und die Gründe dafür. Herr Sturma, ich danke Ihnen sehr und wünsche Ihnen einen wachen Tag heute!
Sturma: Den wünsche ich Ihnen auch, vielen Dank!
Kassel: Danke! Tschüs!
Sturma: Tschüs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. DLFKultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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