Naturbuch-Boom

Warum humanisieren wir die Natur?

Ein Baum vor blauem Himmel
Spiegelt die Natur für uns das Idealbild des Heilen, Heiligen und Vollkommenen? © imago/Danita Delimont
Von Christian Kohlross · 03.04.2018
Es erscheinen Bücher über die Intelligenz der Blumen, die Klugheit von Fischen oder die verborgene Seele von Kühen. Was verrät der Naturbuch-Boom über unser kollektives Seelenleben? – Fragt sich Trauma-Therapeut und Publizist Christian Kohlross.
Nun, er verrät zunächst einmal, dass unsere gegenwärtige Seelenlage eine lange Vorgeschichte hat. Sie beginnt zu Anfang der Neuzeit, damit, dass Menschen, von denen im Mittelalter niemand behauptet hätte, sie seien einander gleich, zunehmend Unterschiede zwischen sich und anderen für irrelevant erklären.
Da sind zunächst die Unterschiede zwischen Fürsten und Bauern, dann generell Unterschiede zwischen Ständen, Klassen, Rassen, Hautfarben, kulturellen Hintergründen, sexuellen Orientierungen, die im Verlauf des Modernisierungsprozesses immer unwichtiger werden. Was zählt oder zählen soll, ist nicht, worin man sich unterscheidet, sondern, worin man sich gleicht. Und es ist diese Gleichheit, die die besondere Wertschätzung des Anderen begründet.

Natur wird humanisiert und damit sakralisiert

Der Boom der Naturbücher unserer Tage markiert die vorläufig letzte Konsequenz dieser Entwicklung: Nun wird das Menschliche nicht nur beim Menschen entdeckt, auch die nicht-menschliche Natur erscheint mit menschlichem Antlitz – und wird folgerichtig humanisiert und damit sakralisiert. Ähnlichkeiten zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur werden nun auch da gesehen, wo sie bisher undenkbar waren, etwa zwischen Kindern und Rindern.
Wie ehedem Bürgerrechtler und Klassenkämpfer votieren die Naturschriftsteller unserer Tage für eine Erweiterung unseres empathischen Vermögens über die uns kulturell auferlegten Grenzen hinaus. Wieso eigentlich sind wir bereit, Rindern anzutun, was zu ertragen wir unseren Kindern nicht entfernt zumuten würden? Die Humanisierung der Natur, einst von Marx zum Erkennungszeichen der klassenlosen Gesellschaft erklärt, in den Tagträumen unserer Naturschriftsteller ist sie längst Wirklichkeit geworden.

Wohlleben imaginiert den Wald als perfekten Sozialstaat

Doch halt, sollten Sie dennoch den Eindruck haben, mit dieser Art der Humanisierung der Natur könnte etwas nicht ganz stimmen, so haben Sie natürlich recht. Und was da nicht stimmt, ist eben, dass unsere neuen Naturschriftsteller – was Marx nie getan hätten – bei Bäumen und Pilzen, Fischen und Huftieren Weisheit und Weisung suchen.
Peter Wohllebens "Das geheime Leben der Bäume" etwa imaginiert den Wald als den perfekten Sozialstaat. Das kann man so sehen. Die Frage ist nur, müssen wir nun durchs Unterholz pirschen oder anspruchsvoller: Forstwissenschaft studieren, wenn wir über die Zukunft der Weltgesellschaft nachdenken wollen? Und müssen wir uns die Frage nach dem guten, richtigen, sinnvollen Leben in Zukunft von Pilzen und Gräsern, Fischen und Hunden beantworten lassen. Oder zeigt dieses Ansinnen nicht vielmehr, wie sehr wir den Mut verloren haben, uns bei den wirklich wichtigen Fragen unseres eigenen Verstandes zu bedienen. Ja, zeigt das all überall zu lesende "Zurück zur Natur" nicht im Grunde nur das Maß der Verzweiflung, das uns ergriffen hat, wenn wir über unsere Zukunft nachdenken?

Die Angst, über die Zukunft nachzudenken

Gewiss, denke ich, das auch! Doch kommt in dieser Idealisierung der Natur auch eine Sehnsucht zum Ausdruck, die die Gegenwart wie wohl keine Zeit vor ihr unerfüllt lässt: die nach dem Heilen und Vollkommenen. In einer Zeit, da es nichts mehr gibt, woran man sich halten kann: die Religionen kein Heiliges, die Künste keine Vollkommenheit mehr bereithalten und auch die Sakralisierung des Menschen im Begriff des Menschlichen als Idealisierung durchschaubar wird, soll einmal noch die Natur das Idealbild des Heilen, Heiligen und Vollkommenen abgeben.

Die Sehnsucht nach Vollkommenheit

Doch die neuerlich empfohlene Nachahmung der Natur verschweigt, dass der Augenblick, in dem ihr diese Rolle zugedacht wird, der ihres Verschwindens ist. Ihr literarisches Fortleben als Kitsch sollte niemanden darüber hinwegtäuschen.

Christian Kohlross, Promotion, Habilitation für Kulturwissenschaften an der Universität Mannheim, mehrere Gastprofessuren (unter anderem Walter Benjamin Chair, Hebräische Universität, Jerusalem), fünf Bücher, Psychotherapiefortbildung, unter anderem an der Washington School of Psychiatry und der Milton Erickson Foundation, Phoenix AZ. Derzeit tätig in eigener Praxis in Berlin. Sein Buch "Kollektiv neurotisch " erschien 2017 im Dietz Verlag.

Ein Porträt von Christian Kohlross, Psychotherapeut und Autor
© privat
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