Nationale Interessen

Von Ludwig Watzal · 24.06.2006
Der Bundespräsident hat sich am Wochenende zum Umgang mit nationalen Symbolen geäußert. Für Deutschland etwas Normales, Typisches. Aber es könnte sein, dass die Bemerkungen von Bundespräsident Horst Köhler und einigen führender Politikern zum "verantwortungsvollen Umgang" der Deutschen mit ihrer Fahne im Verlauf der Fußballweltmeisterschaft im Ausland Erstaunen, wenn nicht Kopfschütteln hervorrufen könnten?
Ist ein Verhalten bemerkenswert, das zur selbstverständlichsten Sache jedes Staatsbürgers gehört?

Dabei ist das Fahnenmeer dieser Tage nur ein weiteres Indiz dafür, dass die Deutschen sich so normal verhalten wie andere Nationen auch. Welche Fortschritte die Normalisierung des Landes in den letzten Jahren gemacht hat, zeigt sich schließlich auch an dem ziemlich salopp dahergesagten Satz des Ex-Verteidigungsministers Peter Struck, wonach deutsche Interessen am Hindukusch verteidigt werden müssten.

Mit "Realpolitik" und "nationalem Interesse" haben die Deutschen nur selten Glück gehabt. Nicht von ungefähr sahen unsere Großeltern die Zeit zwischen 1871 und dem Ersten Weltkrieg als eine besonders glückliche an, auch deswegen, weil Reichskanzler Otto von Bismarck das "nationale Interesse" Deutschlands mit einer Politik der klugen Begrenzung verband. Unter seinen Nachfolgern waren diese Grundsätze rasch vergessen. 75 Jahre deutscher Machtpolitik mündeten unter den Nationalsozialisten in einer rassistischen Vernichtungspolitik.

Seither haftet den Begriffen "nationales Interesse" und "Realpolitik" etwas Anrüchiges an. Der ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann hat das gespannte Verhältnis der Deutschen zu ihrem Land weiland sensibel zum Ausdruck gebracht: Auf die Frage, ob er sein Land liebe, antwortete er: Ich liebe meine Frau. Zwischen seiner Äußerung und dem Verhalten der Deutschen bei der Fußball-WM scheinen jedoch Welten zu liegen.

Als der liberale Journalist Ludwig August von Rochau nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848/49 seine "Grundsätze der Realpolitik" veröffentlichte, brachte er seine Frustration über die demokratischen Prinzipien wie folgt zum Ausdruck: "Macht gehorcht nur der größeren Macht. Legitimiert aber wird die Macht durch den Erfolg. Dieser ist der Urteilsspruch der Geschichte, das 'Weltgericht' der höchsten Instanz, von der es keine Appellation in menschlichen Dingen gibt."

Dies sollten die führenden Politiker des Landes im Auge behalten. Mit Glück und vielleicht weniger durch politische Weisheit, ist Deutschland dem Irak-Abenteuer entgangen, aus dem sich nach den Spaniern und Italienern nun auch die Japaner zurückziehen. Wie das Land stabilisiert werden soll, weiß momentan niemand. Auch die zweifellos persönlich mutigen Kurzaufenthalte von Bush oder Blair in Bagdad helfen nicht weiter. Der "Economist" hat das Bündnis kürzlich als die "Axis of Feeble" (Die Achse der Schwachen) bezeichnet.

Das Konzept der "nationalen Interessen" hat bis 1990 in der bundesdeutschen Außenpolitik ein Randdasein gefristet. Egon Bahr, ein strategischer Vordenker der SPD, fordert schon seit Jahren, dass die Bundesrepublik eine "normale", an den "Interessen des Landes" ausgerichtete Außenpolitik verfolgen solle, die sich an ihren geostrategischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands zu orientieren habe. Doch es gilt wohl weiterhin, was die realistische Schule der Internationalen Beziehungen seit den Zeiten von Hans Morgenthau meint, nämlich dass das Movens der internationalen Politik die Verfolgung nationaler Interessen sei. Nationalstaaten haben keine Freunde, sondern nur Interessen.

Welche Interessen verfolgt Deutschland nun in der Weltpolitik? An oberster Stelle müssen das ökonomische Wohlergehen und die Sicherheit seiner Bürger stehen, gefolgt von der Stabilität der Beziehungen zu seinen Partnern diesseits und jenseits des Atlantiks. Innerhalb der Europäischen Union muss die Finalitätsdiskussion vorrangig geführt werden.

Die EU ist nach den gescheiterten Referenden außen- und sicherheitspolitisch nur noch beschränkt handlungsfähig. Gute Beziehungen zu Russland, China und den Ländern der "Dritten Welt" gehören ebenso zu den elementaren Interessen Deutschlands. Eine feste Verankerung in den Vereinten Nationen, die Durchsetzung des Völkerrechts und die Verfolgung einer glaubhaften Menschenrechtspolitik sind ebenso zentral. Durch stille und nicht nassforsche Diplomatie ist Deutschland quasi zum sechsten Sicherheitsratsmitglied der Vereinten Nationen geworden.

Deutschlands Interessenpolitik sollte aber auch nicht ausfransen. Das Land muss nicht auf jeden fahrenden Zug aufspringen. Wenn schon deutsche Interessen am Hindukusch verteidigt werden müssen, warum dann auch noch im Kongo? Die Erfolge deutscher Interessenpolitik auf dem Balkan, am Horn von Afrika und in Afghanistan sind nämlich bisher bescheiden. Zu Recht verlangt der neue Verteidigungsminister Jung eine große Debatte über unsre wirklichen Interessen.


Ludwig Watzal, Jahrgang 1950, Politikwissenschaftler, zählt zu den profiliertesten deutschen Nahost-Experten. Er studierte Politische Wissenschaften in Berlin, internationale Beziehungen in Philadelphia, Philosophie in München und katholische Theologie in Würzburg. Watzal arbeitet als Journalist in Bonn und als freier Journalist für Fernsehen und Rundfunk sowie als Lehrbeauftragter an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher "Friedensfeinde. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina in Geschichte und Gegenwart", "Peace Enemies" und "Feinde des Friedens".