Nachhaltig und ambitioniert

Von Christoph Dreyer · 11.07.2012
In den arabischen Petro-Monarchien folgen die Städte bei ihrem rasanten Wachstum seit Jahrzehnten vor allem einem Motto: größer, teurer, glitzender. Die Skylines und Schnellstraßennetze von Dubai, Abu Dhabi und anderen Metropolen am Golf erinnern längst an amerikanische Großstädte.
Weitgehend unbeachtet blieb lange Zeit die Frage, ob so auch lebenswerte Innenstädte entstehen. Doha, die Hauptstadt des reichen Zwerg-Emirats Katar vor der Küste von Saudi-Arabien probiert nun einen anderen Weg aus. In einem zentralen Viertel lässt die Frau des Emirs für fünfeinhalb Milliarden Dollar ein ganzes Stadtquartier neu bauen, das Wohnen, Arbeiten und Freizeit auf engem Raum ermöglichen und hohen Umweltstandards genügen soll.

Mitten im Zentrum von Doha klafft ein Loch in der Erde. Gleich hinter dem Palast, von dem aus Emir Hamad bin Chalifa Al Thani seinen Zwergstaat Katar regiert, haben sich die Bagger mehrere Stockwerke tief in den Boden gegraben. Bis zur nächsten Hauptstraße reicht die Baugrube. Auf ihrem Grund machen sich Arbeiter an Betonfundamenten zu schaffen, Presslufthämmer dröhnen, Lastwagen und Gabelstapler fahren Sand und Stahlstreben umher.

Auf dem Bauzaun oben an der Straße verkünden gelbe und rote Lettern: "Das Doha unserer Träume" und "Den Kern unserer Gemeinschaft wiederentdecken." Wer wissen will, warum hier, im Herzen der Hauptstadt, ein komplettes Stadtviertel abgerissen und neu gebaut wird, muss drei Kilometer weiter nach Norden fahren. Zu Füßen der Hochhäuser im West Bay, dem Finanzdistrikt, liegt am Ufer der Bucht von Doha ein umgebauter Lastkahn, der als Informationszentrum für das Projekt dient.

Sein Eingangsraum ist mit Nischen aus Gipsstein und einem kleinen Trinkbrunnen an der Wand geschmückt - Reminiszenzen an den Vorhof eines traditionellen Wohnhauses. In einem abgedunkelten Teil weiter hinten läuft als Endlos-Schleife ein melancholischer Kurzfilm, in dem drei Katarer aus verschiedenen Generationen von ihrer schleichenden Entfremdung von der hergebrachten Lebensweise erzählen.

Im hintersten Raum weist John Rose, ein schlanker Amerikaner mit grau melierten Stoppelhaaren, mit ausladender Geste auf ein Holzmodell des künftigen Viertels. Zu sehen ist eine kleinteilige, unregelmäßige Bebauung mit dreistöckigen Wohnhäusern am einen und bis zu 20-stöckigen Bürotürmen am anderen Ende des Areals.

John Rose: "Das hier ist wie das Sony Center, das Daimler-Benz-Quartier und der Leipziger Platz zusammen, bis fast zur Friedrichstraße – das ist die Größenordnung!"

Vor Jahren hat Rose eine Zeitlang in Berlin gearbeitet. Heute ist er Projektleiter bei Musheireb Properties, einem Unternehmen, das nach dem Stadtteil benannt ist, für dessen Neubau es eigens gegründet wurde: Musheireb – Arabisch für "Tränkplatz" – wegen des Flüsschens, das dort einst nach Regenfällen verlief. Als Doha um 1950 zu wachsen und den Charakter eines größeren Fischerdorfs abzulegen begann, war der Stadtteil der erste Außenbezirk. Mittlerweile zählt er längst zum alten Stadtkern.

Doch die Fünfziger-Jahre-Betonbauten von Musheireb mit ihren kleinen Geschäften wirkten zuletzt eher heruntergekommen und waren praktisch nur noch von asiatischen Gastarbeitern bewohnt, bevor sie abgerissen wurden. Bis zum Jahr 2016 will das Team von John Rose an ihrer Stelle auf einer Fläche von 31 Hektar für fünfeinhalb Milliarden Dollar ein städtebauliches Experiment verwirklichen: ein komplettes neues Viertel für 2500 Einwohner, das beispielhaft eine neue Lebensweise in die Golfstaaten bringen soll – eine lebendige, fußgänger- und umweltfreundliche, als Wohnlage attraktive Innenstadt.

John Rose: "Wir sanieren das Stadtzentrum und stärken zugleich die katarische Identität. Das ist ein Beispiel für ein Bauprojekt, das Leben verändert. Es wird die Wechselwirkung zwischen den Menschen und der Stadt umkrempeln.

Das Entscheidende ist, dass wir ein Stadtquartier schaffen – ein Viertel, in dem die Menschen alle Aspekte ihres Lebens auf natürliche Weise verbinden können. Man kann dort arbeiten, seine Kinder zur Schule bringen, in der Moschee beten gehen, einkaufen, in seinem Haus oder seiner Wohnung leben. Man kann in ein Museum oder ins Kino gehen und wird einmal die U-Bahn in andere Teile der Stadt nehmen können."

Rose geht weiter zu einer Schautafel mit Architektenzeichnungen und zeigt, wie überstehende Dächer und Baldachine selbst auf den öffentlichen Plätzen Schatten spenden werden. Das soll trotz des heißen Klimas die Fortbewegung zu Fuß ermöglichen - eine mittlere Revolution in einer Stadt, in der viele Bewohner selbst Strecken von ein paar hundert Metern mit ihren Autos zurücklegen. Die werden in dem künftigen Stadtviertel weitgehend unter die Erde verbannt.
John Rose: "Das hier ist eine "Sikkat" – eine Fußgasse zwischen den Gebäuden, auf der man nur beim Überqueren der Straße Autos begegnet. Diese Gassen spenden Schatten und führen, weil sie so eng sind, auch dazu, dass sich die Menschen begegnen und ins Gespräch kommen. Schon mit einer kleinen Unterbrechung in der Sikkat hat man eine "Baraha" geschaffen, einen kleinen Platz oder Mini-Park, wo man sich treffen und unterhalten kann. Vieles davon belebt bloß Dinge wieder, die es in Katar schon früher - in den 30er, 40er und frühen 50er-Jahren - im Marktviertel gab. Und es verstärkt die katarische urbane Formensprache mit ihren weichen rechtwinkligen Formen."

Der entscheidende Unterschied etwa zur Öko-Stadt Masdar vor den Toren von Abu Dhabi: Musheireb wird nicht quasi unter Labor-Bedingungen irgendwo in die Wüste gebaut, sondern mitten in das Bestehende Stadtgefüge hinein. Im Vorraum des Informationszentrums ist ein Video zu sehen, in dem zwischen zwischen Bildern der wenigen restaurierten Lehmbauten in Doha und Animationen des künftigen Viertels Scheicha Moza bint Nasser al-Missned zu Wort kommt, die Frau des Emirs.

Mit den weitverzweigten Aktivitäten ihrer Katar-Stiftung treibt sie den Umbau des Landes von der Erdöl- zur Wissensgesellschaft voran. Dazu hat sie Zweigstellen namhafter ausländischer Universitäten in Doha angesiedelt und Technologiefirmen ins Land geholt. Auch Musheireb Properties ist eine Tochter der Stiftung, und Scheicha Moza, deren Worte vom Bildschirm in den menschenleeren Vorraum hallen, gilt als Initiatorin des Stadtumbauprojekts.

Scheicha Moza: "Zu den Grundlagen dieses Vorhabens gehört, dass es ein grünes Projekt ist, das sich um einen Einklang mit der Natur und ihre Erhaltung bemüht. Es ist ein ideales Modell dafür, wie Projekte Tradition und Moderne zusammenführen sollten. Das ist der erste Versuch, ein Modell zu finden, das unseren Bedürfnissen und unserer Identität entspricht – und ein Appell an jeden, der sich mit Architektur beschäftigt, gemeinsam mit uns nach anderen Lösungen zu suchen."

Von der internationalen Presse wird Scheicha Moza wegen ihrer oft farbenfrohen Gewänder und Turbane als Stilikone verehrt. In dem Musheireb-Video gibt sie sich betont traditionell in der Abaya, dem schwarzen Übergewand der Frauen in den Golfstaaten, das ihr kräftig geschminktes Gesicht unverhüllt lässt.

Scheicha Moza: "Was wir momentan haben, ist eine Art Lücke, eine architektonische Leere. Die Entwicklung der traditionellen Architektur in Katar ist zum Stillstand gekommen. Infolge unserer Öffnung für moderne technologische und wissenschaftliche Entwicklungen sind wir nachlässig geworden und haben es versäumt, unsere eigene Architektur weiterzuentwickeln. Deshalb fingen wir an zu importieren, was es schon gab - und das war natürlich westliche oder ausländische Architektur."

Was Scheicha Moza hier in gemessene Worte fasst, ist das Eingeständnis einer jahrzehntelangen Fehlentwicklung. In den frühen 1970er-Jahren hatten die damaligen Planer fraglos das damalige angelsächsische Ideal übernommen, Städte für den Autoverkehr zu optimieren. Also kaufte die Regierung die Grundstücke im Zentrum Dohas auf, wo niedrige Lehmhäuser und schmale Gassen bis dahin ein verwinkeltes, hervorragend an das extrem heiße Klima angepasstes Gewebe von Wohn- und Geschäftshäusern bildeten.

An ihrer Stelle wurden Geschäfts- und Regierungsgebäude in gleichförmiger, klimatisch völlig unangepasster Betonbauweise errichtet, durchschnitten von breiten Autostraßen, auf denen heute der Verkehr stockend dahin kriecht. Die früheren Innenstadt-Bewohner zogen in neue Vorortsiedlungen.

Trotz seiner hochfliegenden Ziele ist das Projekt nicht unumstritten. Um Kritik daran zu hören, muss man nur die Straße an der Baustelle überqueren. Der Kassierer in einem indischen Schnellrestaurant fertigt zügig einen kleinen, aber stetigen Strom von Kunden ab und nimmt nebenher telefonische Bestellungen entgegen.

Kassierer: "Sehr viele Leute sind von hier weggezogen. Die haben ihre Läden und ihr ganzes Geschäft verloren. Sie sind nach Barwa, Wakra oder Nadschma gezogen. Ich habe viele Freunde dort. Bei denen läuft das Geschäft nicht gut, hier dagegen schon. Es gibt dort keine Läden, keine Menschen, keine Stadt - nichts. Diese Siedlungen sind ja noch ganz neu. Da ist nur nacktes Land und Wüste."

In einem etwas schäbigen Bürokasten in der Nähe des Flughafens hat der spanische Architekt Adrià Carbonell sein Büro. Die Gegend könnte selbst eine Sanierung gebrauchen, aber immerhin hat es der drahtige Mittdreißiger im Sakko von hier aus nicht weit zum Kindergarten seiner Tochter. Vor gut einem Jahr ist Carbonell voller Tatendrang nach Doha gezogen.

Als einer von anderthalb Millionen Ausländern in einem Land mit gerade einmal 225.000 Staatsbürgern wollte er seinen Beitrag dazu leisten, den gemessen an der Wirtschaftsleistung pro Kopf reichsten Staat der Welt auf- und auszubauen. Nun verbringt er seine meiste Zeit damit, beim jahrelang verzögerten Bau zweier Privatvillen die gröbsten Fehler auszubügeln. Fragt man ihn danach, was hier im Großen falsch läuft, verzieht er den Mund zu einem bitteren Lächeln.

Adrià Carbonell: "Das Hauptproblem mit der Stadtentwicklung hier in Doha sind die neuen Bauprojekte in den Vororten. Es wird einfach eine bewachte Wohnanlage neben die andere gesetzt, jede von Mauern umgeben, ohne Beziehung zueinander und ohne urbanes Konzept. Damit reproduzieren sie ein Modell, das etwa in Brasilien oder Mexiko oder den USA seinen Grund in Sicherheitsproblemen hat. Hier verkaufen sie das als Exklusivität. Und am Ende haben sie eine riesengroße Stadt, die in Wirklichkeit gar keine ist."

Carbonell atmet erst einmal tief durch. Dann kommt er auf den Finanzdistrikt West Bay zu sprechen, wo seit der Jahrtausendwende zwischen sechs- und achtspurigen Straßen ein Hochhaus neben dem anderen emporschießt. Cafés, Geschäfte oder anderes Leben auf der Straße sucht man weitgehend vergeblich; als Fußgänger sind nur vereinzelt Touristen unterwegs. Wer dort arbeitet, kommt mit dem Auto und verschwindet direkt im Parkhaus eines Büroturms oder Einkaufszentrums.

Adrià Carbonell: "Das ist ein komplettes Scheinbild einer Stadt. Es sieht vielleicht aus wie eine Stadt, aber es gibt kein urbanes Gefüge, keine Struktur, keine Beziehung, keine Komplexität oder Diversität – all die Dinge, die eine Stadt ausmachen. Sie bauen bloß die äußere Form: Wenn man das Bild einer amerikanischen Innenstadt nimmt, sieht man all diese Hochhäuser – und dem sieht der Finanzdistrikt hier in Doha mehr oder weniger ähnlich. Aber wenn man sich die Ausführung genauer anschaut, stellt man fest, dass hier – anders als in der US-Stadt – fast nichts dahinter ist. Es ist bloß eine Ansammlung von Hochhäusern, die in keiner Beziehung zueinander stehen und keine Stadt ergeben."

Ähnlich sieht auch der Stadtplaner Agatino Rizzo manche Fehlentwicklung in Doha. Wie zerfasert die Stadt inzwischen ist, bekommt der junge italienische Assistenzprofessor täglich auf dem Weg zur Arbeit vor Augen geführt: Die Fahrt zu seinem Büro auf dem Frauencampus der Universität von Katar weit im Norden Dohas führt durch schier endlose Einfamilienhaus-Siedlungen. Rizzo sieht in Musheireb einerseits ein faszinierendes Experiment der Innenstadterneuerung, weil es vergleichbare gemischte Wohn- und Geschäftsviertel in der Golfregion bislang kaum gebe. Andererseits:

"Dass sie alles abgerissen haben und jetzt von Grund auf neu bauen, gilt in Europa als veraltetes Konzept. In westlichen Ländern versucht man heutzutage, eher punktuell einzugreifen und nur bestimmte Stellen der Stadt zu verändern. Ein Problem mit Musheireb wird auch die soziale Zugänglichkeit sein. Weil es in diesem Teil der Stadt die besten Wohnungen, die besten Geschäfte und Luxusläden geben soll, wird er natürlich nur für einen kleinen Anteil der in Katar lebenden Menschen erschwinglich sein."

Die eigentliche Funktion von Musheireb sieht Rizzo weniger darin, hehre Nachhaltigkeitsstandards am Golf zu etablieren. Er betrachtet das Projekt vor allem als Teil der Strategie, westliche Arbeitskräfte, aber auch Touristen ins Land zu locken, um langfristig die wirtschaftliche Abhängigkeit von Öl und Gas zu überwinden. Dass Katarer wieder in der Innenstadt wohnen wollen und sich einen nachhaltigeren Lebensstil zu eigen machen, kann er sich nur als Ergebnis eines umfassenden Umdenkens vorstellen.

Agatino Rizzo: "Die Führung dieses Landes – Teile der Königsfamilie, aber auch Minister – denken schon voraus. Nehmen Sie zum Beispiel Scheicha Moza: Die hat gezeigt, dass sie langfristig denkt mit Blick auf bestimmte Themen wie eine wissensbasierte Wirtschaft, wie Bildung und auch nachhaltige Entwicklung. Diese Leute sind also ein Stück weiter in diesen Dingen. Aber bis diese Vorstellungen von der Spitze der Pyramide bis nach unten gelangen, wird es Zeit brauchen – und soziale Veränderungen."