Müßiggang gegen Weltherrschaft

Rezensiert von Maximilian Preisler |
Erstaunlich, welche Schätze der Schreibtisch von Sebastian Haffner enthielt. An erster Stelle muss natürlich die gerade so analytisch präzise wie ungemein biegsam geschriebene autobiographische Erinnerung "Geschichte eines Deutschen" genannt werden. Die Jahre ab 1933, von Hitlers "Machtergreifung" also, bis 1938, als Haffner nach England emigrierte, decken nun die gut fünfzig Feuilletons ab, die im Band "Das Leben der Fußgänger" zusammengefasst sind.
Überraschend, für welche Zeitungen und Zeitschriften Haffner schrieb, übrigens damals noch als Raimund Pretzel - den Namen änderte er später, um Verwandten seiner jüdischen Frau nicht zu schaden. Die ersten Glossen, Kurzessays, Reiseberichte und spöttischen Kommentare erschienen in der ehrwürdigen Vossischen Zeitung, nach deren unrühmlichen Ende publizierte er seine Texte in so apart betitelten Magazinen wie "Die neue Linie", das war durchaus modisch gemeint, "Die Dame", ebenfalls ein Modejournal, und sehr viele Beiträge von Haffner wurden in der "Koralle" veröffentlicht, einer weiteren Frauenzeitschrift, und diese "Koralle" wurde immerhin zweimal monatlich von 30.000 Leserinnen gekauft.

Zweierlei fällt sofort ins Auge, wenn man den Sammelband durchblättert: Die Wurzeln für Haffners oft bewunderten Schreibstil, seine provokante Art des Infragestellens und seine gewagten rhetorischen Volten, sind genau hier zu finden. Und zum zweiten: Trotz des vermeintlich völlig unpolitischen Tons entwirft Haffner eine absolute Gegenwelt zur Realität der sich verfestigenden Nazi-Diktatur - und ist damit - trotz der Alltagsthemen und der oft leicht skurrilen Erkundungen des Alltagslebens, etwa in "Ich und der Weihnachtsmann" oder "Robben im Ruhestand" - insgesamt eminent politisch.

Haffner fasst sein stilistisches Vorgehen so zusammen: "Die meisten Gemeinplätze werden zu Wahrheiten, wenn man sie auf den Kopf stellt". In Sache Geld rät er, tunlichst aufs Sparen zu verzichten, ein weiterer Text ermuntert zum Rauchen und er rettet den Ruf der Ansichtspostkarte, und Männer, so stellt er fest, möchten am liebsten für ihre Fehler gelobt werden. Mit der gleichen Lust auf Provokation, die darauf setzt, dass sich damit für den Geist neue Wege auftun, wird Haffner später zum Beispiel in seinem kurzen Hitler-Porträt die frühen "Leistungen" und "Erfolge" des Diktators aufreihen und unkritische Nachplapperer verwirren.

Das Menschenbild, das Haffner in diesen fast durchweg "leichten" Feuilletons entwirft, ist dem der Nazis diametral entgegengesetzt. Das beginnt mit dem ironischen Unterton des weltweisen Reporters, setzt sich fort im unbedingten Lob des bürgerlichen Individualismus, die Nazis dagegen setzten bekanntlich auf eine atavistische Volksgemeinschaft, dazu rät er zum Müßiggang, dann erübrige sich das Streben nach Weltherrschaft. Beim Vergleich deutscher Charakterzüge, vor allem der "ängstlichen Selbstbeobachtung", mit dem der Engländer, wird deutlich, dass Haffner sich den Inselbewohnern nahe fühlt: "Alles können und sich dann über alles lustig machen zu können."

Den Gipfelpunkt dieser hintergründigen Abrechnung findet man in dem kurzen Feuilleton, das mit "Kleines Credo" überschrieben ist. Hier konfrontiert der Kommentator zwei Arten, in der Welt zu bestehen. Die einen haben Geschmack, die anderen eine Weltanschauung. Keine Frage, welchem Lager sich Haffner zuordnet. Gewissensfragen beantwortet der Mann von Geschmack mit Scherzfragen, und Hass mit Spott. Ja, beruhigt Haffner sich selbst und seine Leser: Auch heute ist der Mann von Geschmack noch nicht tot. Eine Anmerkung zu diesem Text widerspricht allerdings diesem Befund: Für sein "Kleines Credo" konnte Haffner keinen Redakteur mehr gewinnen.


Sebastian Haffner: Das Leben der Fußgänger. Feuilletons 1933-1938
Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv), München 2006, 400 Seiten