Mit dem Tod aufs Parkett

Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 24.11.2012
Im Mittelalter waren Tod und Vergänglichkeit Bestandteil des Alltags. Das zeigt besonders eindrücklich der Totentanz: Seit dem 14. Jahrhundert hat er seinen festen Platz in der Kunst und in den literarischen Mahnungen zur Moral.
"Heute, ja, heute, bin ich noch schön.
Morgen, ach, morgen muss ich vergeh'n …"


"Was heut' noch grün und frisch da steht,
Wird morgen weggemäht.
Die ed'le Narzisse, die englische Schlüssel,
Die schön' Hyazinth, die türkische Bind'."


"Der Totentanz ist ein endloser Rundtanz, in dem sich jeweils ein Toter und ein Lebender abwechseln. Jedes Tanzpaar setzt sich aus einem entfleischten Gerippe und einem je nach gesellschaftlichem Stand gekleideten Menschen zusammen. Der Tod reicht seine Hand dem Lebenden, den er sich ausersehen hat, der ihm aber noch nicht folgen will. Der moralisch-erzieherische Zweck ist, die Todesstunde und die Gleichheit aller Menschen angesichts des Todes vor Augen zu führen ... "

Philippe Ariès.

"Ein Totentanz ist ein außerordentlich merkwürdiges Gebilde: Ein Totengerippe tanzt mit einem Menschen. Das Ganze hat eine historische Fundierung; es ist entstanden in Europa im Gefolge der schrecklichen Pest-Ereignisse des Jahres 1348, eine der ersten großen globalen Katastrophen, die die europäische Menschheit erlitten hat. Diese Angst grundiert jahrhundertelang das Bewusstsein der Menschen, und in dieser Angst entstand diese merkwürdige Gattung Totentanz."

Gert Kaiser, Professor für Altgermanistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Seit über 600 Jahren tanzen sie, die Toten im Abendland. Auf Gemälden und Holzschnitten, in Stundenbüchern und Psaltern, in Fresken an Kirchen- und Friedhofsmauern, in Liedern, Tänzen und Spielen, in Symphonien, Moritaten und Schauspielen. Künstler aller Epochen haben sich von dem Thema inspirieren lassen: Dürer und Dali, Holbein, Merian und Rembrandt, Edvard Munch, Lovis Corinth, Käthe Kollwitz und Hugo von Hofmannsthal.

Das Totentanzthema überschreitet Zeit- und Sprachgrenzen. In England gibt es den "English Dance of Death", in den Niederlanden den "laatste Dans" in Frankreich den "Danse Macabre". Es ist eine merkwürdige Vorstellung: der Tod als Tanzpartner. Und eine, die erst im späten Mittelalter Gestalt annimmt und früheren Epochen - etwa der Antike - völlig fremd war.

Es mag nicht verwundern, wenn der Tod als Fährmann ins Jenseits, als sensenschwingender Knochenmann, als apokalyptischer Reiter oder als Schnitter dargestellt wird. Doch von allen Bildern, die sich der abendländische Mensch vom Tod gemacht hat, ist das als Tänzer sicherlich das seltsamste. Das Makabre beruht darauf, dass das Totengerippe die intensivste Form der Lebensfreude, den Tanz, nachäfft, dass es sich in einem Spannungsbogen von Vitalität und Endlichkeit bewegt:

"Und genau das ist auch der Grund für das tiefe Erschrecken der Menschen. Die Menschen waren gewohnt an Totenschädel, an Gerippe, die Menschen wussten, was 'memento mori' ist, dass Vergänglichkeit ein zentrales Motiv ihres Seins ist, an all das waren sie gewohnt. Woran sie nicht gewohnt waren, war der tanzende Tod; dass sich diese allgegenwärtige Gestalt plötzlich in einer nachäffenden Weise mit dem Inbegriff des Lebens schmückt und sie dadurch ins Grausen versetzt."

Die genauen Ursprünge dieser seltsamen Bilder liegen im Dunkel:

"Man hat es auf alte Weltgerichtsdarstellungen zurückgeführt, man hat es auf Erscheinungen an Gräbern, auf alte Bußpraktiken zurückgeführt, man hat es sogar in vorchristlichen Bußpredigten wiedergefunden. All diese Theorien sind nirgendwo wirklich überzeugend gewesen."

Die meisten, mit Bildern verzierten literarischen Totentänze entstehen um die Mitte des 14. Jahrhunderts in lateinischer, mittelhochdeutscher oder frühneuhochdeutscher Sprache. Sie alle haben zwei Gemeinsamkeiten: das "Vanitas"-Motiv.

"Das ist ein zentrales Motiv: Besinnt euch, dass ihr sterblich seid und alles, was ihr hier habt, ist vergeblich."

Und die Darstellung des unterschiedslosen Dahingerafftwerdens aller Stände:

"Diese Bilder stellten dar das Totengerippe, das mit allen Schichten der Bevölkerung in einen Tanz sich begibt und zwar jeweils mit einem Ständevertreter - angefangen vom Papst, vom Kaiser, vom König bis hinunter zum Bettler und zum Kind und ihm dabei seinen nahen Tod verkündet. Und dieser Tanzpartner des Todes äußert sich meist - das steht dann in zwei Versen unter diesen Bildern geschrieben - dass er doch eigentlich unschuldig sei und er möge doch Schonung walten lassen, wenigstens dieses eine Mal."

Einer nach dem anderen reiht sich in den Reigen der Tanzenden ein. Es ist ein Querschnitt durch die spätmittelalterliche Gesellschaft: der Kardinal, der Bischof, der Arzt, die Edelfrau, der Ritter, der Kaufmann, der Bettler, das Kind.

"Schonet keinerlei Person, einerlei ob arm, ob reich,
Schont nicht Mitra oder Kron,
Fürst und Bischof gilt ihm gleich …"


Der Tod als der große Gleichmacher. Deutliche Sozialkritik klingt hier an. Doch die Totentänze des ausgehenden Mittelalters spiegeln nicht nur die sozialen Unruhen der Epoche, sondern auch die aufkeimenden Zweifel an geistlicher und weltlicher Herrschaft wider:

"Nicht umsonst sind die Totentänze immer an den Klöstern der Franziskaner- und Dominikanerorden gewesen, das heißt jener gesellschaftlich aufständischen Mönchsorden, die immer auf der Seite der Armen, der Bedrückten gewesen sind. Deshalb ist das Motiv der gesellschaftlichen Gleichheit durch den Tod hier so brüsk, so rabiat so brutal wie fast nirgendwo sonst. Dieses Motiv der Widerstandsbewegung in religiösem Gewand ist dem Mittelalter sehr gut bekannt und ist natürlich auch eingeflossen in die Totentänze."

Mit dem Heraufdämmern eines neuen Zeitalters, der Renaissance, werden die Zweifel an der uneingeschränkten Herrschaft des Todes deutlicher. Hatten die Menschen ihn jahrhundertelang in seiner grauenhaften Majestät anerkannt und ihn "Herre Tod" genannt, so stellen sie nun nicht nur die gesellschaftliche Ordnung infrage, sondern auch die Herrschaft des Todes. Sie wollen wissen: Warum ist gegen ihn kein Kraut gewachsen, warum kann man ihn nicht schlagen, strafen, besiegen? Und: Warum macht ihm eigentlich niemand den Prozess?

Es ist ein Jurist aus Böhmen, der Magister Johann von Tepl, der beschließt, diesen Prozess zu führen, nachdem der Tod ihm seine junge Frau Margarethe entrissen hat. Und nun stehen sich in dem um 1400 entstandenen spätmittelalterlichen Prosawerk "Der Ackermann aus Böhmen" Mensch und Tod in einem Wechselgespräch, wie bei einer gelehrten Disputation gegenüber. Der Tod wird angeklagt:

"Grimmiger Tilger aller Land, schädlicher Vernichter aller Welt, schrecklicher Mörder aller Leut. Herr Tod, Ihr seid verflucht...!"

Den Tod ficht das nicht an. Geschickt verteidigt er sich:

"All irdische Lieb muss zum Leide werden. Der Freuden Ende Trauer ist ...
Zu solchem End laufen alle lebendigen Ding..."


Gott entscheidet schließlich zwischen den streitenden Parteien:

"Der Prozess geht in der Weise aus, dass der Tod eigentlich der Verlierer ist, auch wenn es so nicht unmittelbar formuliert wird. Es ist der Versuch einer Rationalisierung des nicht Rationalisierbaren. Es ist auch kein Trostbuch, sondern es ist ein Aufstandsbuch."

- Und das kühne Unterfangen, in dem Tod keine Strafandrohung, sondern eine Naturordnung zu sehen. Und so ändert sich auch allmählich die Darstellung des Todes in den Totentänzen. Seine Scheußlichkeit wird ästhetisiert, das Grausen verschwindet. Jetzt kommt der Tod als Freund, der seinem Opfer nur noch sanft die Hand auf die Schulter legt. Von dort bis hin zur Figur des Todes als Verführer ist es nur noch ein kleiner Schritt. Ein Tanzschritt - natürlich!

"Gib deine Hand, du schön und zart Gebild.
Bin Freund und komme nicht, zu strafen.
Sei guten Muts. Ich bin nicht wild.
Sollst sanft in meinen Armen schlafen ... "


Matthias Claudius.

Die religiöse Substanz, die die Totentänze vergangener Jahrhunderte durchzog, ist in unseren Tagen geschwunden. Und geschwunden ist damit auch die Gewissheit, dass auch die Allmacht des Todes gebrochen werden kann.