Militärhistoriker zu 100 Jahre Verdun

"Erste Materialisierung des totalen Krieges"

Französische Infanterie auf dem Schlachtfeld von Verdun im 1. Weltkrieg (1914-1918).
Soldaten der französischen Infanterie auf dem Schlachtfeld von Verdun im Ersten Weltkrieg © picture alliance / AFP
Sönke Neitzel im Gespräch mit Ute Welty · 20.02.2016
Bis zu 6000 Gefallene forderte der blutige Stellungskrieg pro Tag, Millionen Granaten kamen zum Einsatz, auch Giftgas. Das zehnmonatige massenhafte Sterben in der Materialschlacht von Verdun markiert den Auftakt eines neuen, industrialisierten Krieges, erklärt der Militärhistoriker Sönke Neitzel.
Der Militärhistoriker Sönke Neitzel erklärt, warum sich die Schlacht um Verdun tief in die kollektive Erinnerung eingebrannt hat und zum Symbol für die Schrecken des Massensterbens, die tragische Ergebnislosigkeit des Stellungskrieges und die Gräuel des Ersten Weltkrieges wurde.
Verdun sei die erste der großen Materialschlachten eines industrialisierten Krieges, sagte Neitzel im Deutschlandradio Kultur. "Die erste Materialisierung des totalen Krieges, eines neuen, industrialisierten Krieges," erklärte der Professor der Universität Potsdam die symbolische Bedeutung der Schlacht von Verdun, die mit dem Angriff deutscher Truppen am 21. Februar 1916 begann.

2,5 Millionen Franzosen und 1,2 Millionen Deutsche kämpften in Verdun

Der Kampf um die nordfranzösische Stadt Verdun und ihre Befestigungsanlagen habe sich auch deswegen tief in die kollektive Erinnerung eingebrannt, weil Millionen französischer und deutscher Soldaten in Verdun kämpften und diese Erfahrung weitergaben. "Man darf nicht vergessen, dass die Soldaten rotiert sind damals an der Westfront und fast alle französischen Soldaten des Jahres 1916 irgendwann einmal vor Verdun gekämpft haben, 2,5 Millionen." Auf deutscher Seite seien an dem über zehn Monate dauernden Kampf insgesamt 1,2 Millionen Soldaten im Einsatz gewesen, so der Inhaber der einzigen deutschen Professur für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam.

Annäherung im Gedenken

In den 1920er und 1930er Jahren habe es zwar bereits im Gedenken eine Annäherung der ehemaligen Kriegsgegner gegeben, als die Beinhäuser von Douaumont eröffnet wurden. Die Möglichkeit einer gemeinsamen Erinnerungskultur sei jedoch durch den Nationalsozialismus und den deutschen Vernichtungskrieg wieder zerstört worden. Erst das gemeinsame Gedenken des französischen Präsidenten François Mitterand und des damaligen deutschen Kanzlers Helmut Kohls Hand in Hand auf dem deutschen Friedhof in Verdun am 22. September 1984 sei daher später zum Symbol einer deutsch-französischen Versöhnung und des Friedens geworden. Die heutige reflektierte Art des Umgangs mit Krieg und Kriegstoten zeigten heutige Denkmäler in Frankreich, auf denen die Namen der Toten in alphabetischer Reihenfolge geordnet seien und nicht mehr nach Nationen.

Die Avantgarde der deutschen Kultur strebte an die Front

Obwohl die Schlachten des Ersten Weltkrieges die ersten militärischen Auseinandersetzungen gewesen seien, von denen es Fotos und sogar Filme gab, sei für die Erinnerungskultur und die "Images" dieses Krieges die schriftliche Verarbeitung entscheidend geworden. "Dieser Krieg ist durch die Mühlen der Dichter und Denker gedreht worden", erklärte Neitzel, da gerade auch die Avantgarde der deutschen Kultur im Ersten Weltkrieg an die Front gestrebt und den Krieg dort selbst erlebt habe. Im Unterschied zu heutigen "cleanen" Darstellungen, wie sie spätestens seit dem Irakkrieg auch übers Fernsehen verbreitet werden, sei in den künstlerischen Umsetzungen "gebrochen" das Leid an Körper und Seele der Opfer des Ersten Weltkrieges zu erfahren..

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Als vor 100 Jahren der lange Max und die dicke Berte in Stellung gebracht werden, ahnen wohl nur die Wenigsten, was da an Tod und Leid auf dem Schlachtfeld vor Verdun wartet. 6.000 Menschen pro Tag sterben, weil Deutsche und Franzosen in diesem Ersten Weltkrieg um ein paar hundert Meter Boden kämpfen. Verdun ist zum Symbol für die Sinnlosigkeit des Krieges geworden und hat Generationen von Deutschen und Franzosen traumatisiert, und vor allem Verdun war das Fanal für eine Eskalation der Gewalt, die das gesamte 20. Jahrhundert überschattete. Bis heute fragen sich Historiker, wie es dazu kommen konnte, und einer, der ein paar Antworten hat, ist jetzt zu Besuch in "Studio 9", nämlich Professor Sönke Neitzel von der Uni Potsdam und dort Lehrstuhlinhaber für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt. Guten Morgen!
Sönke Neitzel: Guten Morgen!
Welty: Es gibt ja niemanden mehr, der direkt von Verdun erzählen kann, und trotzdem ist diese Schlacht tief im kollektiven Gedächtnis verankert. Woran liegt das?

Verdun ist die erste Materialisierung des totalen Krieges

Neitzel: Verdun ist zunächst einmal die erste der großen Materialschlachten des Ersten Weltkrieges. Danach kommt die Somme, es kommt Ypern. Verdun ist die erste Materialisierung des totalen Krieges, eines neuen industrialisierten Krieges. Das ist was Neues, was aufkommt. Dann darf man nicht vergessen, dass die Soldaten rotiert sind damals an der Westfront und fast alle französischen Soldaten des Jahres 1916 irgendwann mal vor Verdun gekämpft haben, 2,5 Millionen. Auch auf deutscher Seite waren nicht nur die Soldaten, die an diesem 21. Februar dann an Angriffen beteiligt, sondern über die kommenden Monate 1,2 Millionen. Es waren also ganz, ganz viele Menschen, die selber in Verdun waren und diese Nachricht, diese Erfahrung auch weitergetragen haben.

Gemeinsames Erinnern ?

Welty: Es hat sehr lange gedauert, bis sich Deutsche und Franzosen über Verdun wieder angenähert haben, bis 1984, wo dieses berühmte Bild entstand von Francois Mitterand und Helmut Kohl Hand in Hand, die gemeinsam der Getöteten gedacht haben. Warum hat sich eine so unterschiedliche Betrachtungsweise so lange halten können?
Neitzel: Das kommt durch den Zweiten Weltkrieg. Es ist ganz interessant, dass als das Gebeinhaus von Douaumont eröffnet wird, es deutsche und französische Veteranen sind Anfang der 1930er-Jahre, die dort zusammenkommen. Selbst in den 20er-Jahren, 30er-Jahren war das noch möglich vor Hitler, und der Nationalsozialismus und der deutsche Vernichtungskrieg macht das natürlich kaputt. Je schmerzhafter ein Ereignis ist für eine Nation, desto länger braucht es. Es ist auch die Frage, auf welche Art von Gesellschaft das trifft: Es ist ganz interessant, wenn wir heute überlegen, wie Frankreich mit Krieg und Kriegstod umgeht, sind die Franzosen, würde ich sagen, viel reflektierter als zum Beispiel die Briten. Die Franzosen bringen heute Denkmäler in Frankreich, an denen die Namen der Toten nicht nach Nation geordnet sind, sondern nach Namen.
Welty: Alphabetisch.
Neitzel: Alphabetisch, genau. Das wäre für Großbritannien unvorstellbar. Das hängt immer auch sehr, wie man erinnert, davon ab, ist eine Gesellschaft bereit, auch die Grautöne zuzulassen und nicht nur in Schwarz und Weiß zu denken.

"Der Krieg, der durch die Mühlen der Dichter gedreht wird"

Welty: Verdun gehört zu den ersten Kriegsereignissen, von denen es Bilder gibt, von denen es Fotos gibt, sogar Filme, also bewegtes Bildmaterial. Inwieweit hat das die Erinnerung geprägt?
Neitzel: Eigentlich ist der Erste Weltkrieg ein Krieg, der durch die Mühle der Dichter und Denker gedreht wird. Es ist ganz interessant, dass auch die Avantgarde der deutschen Kultur im Ersten Weltkrieg an die Front strebt. Im Zweiten haben sie gelernt und haben das dann versucht, eher zu vermeiden. Ich glaube, dass die eigentliche Wirkung für die Images des Krieges von dem geschriebenen Wort ausgeht und von der Tatsache, dass so viele, die schreiben konnten, den Krieg wirklich selber erlebt hatten an vorderster Front.
Welty: Das hat sich massiv verändert, oder?
Neitzel: Das hat sich massiv ...
Welty: Die Rezeption von solchen Ereignissen funktioniert heutzutage vor allen Dingen über das Bild.
Neitzel: Ja, und wenn wir an die heutigen Kriege denken, funktioniert es natürlich vor allen Dingen durch die Fernsehbilder. Wenn wir an den Irakkrieg denken – es beginnt mit Vietnam schon, aber ganz stark im Irakkrieg, das ist jetzt geradezu clean. Wenn wir uns in der "Tagesschau" zurücklehnen und dann beim Abendbrot das verfolgen, dann sehen wir Flugzeuge, wir sehen Raketen, aber wir sehen die Toten, wir sehen die Verstümmelten, wir sehen das ganze Leid nicht. Das ist eine Sache, die übrigens ein Unterschied zum Ersten Weltkrieg ist: Wenn wir uns die künstlerische Repräsentation des Ersten Weltkriegs ansehen, dann sehen wir schon, natürlich gebrochen, aber wir sehen schon das Leid am Körper und das Leid an der Seele.
Welty: Haben die Videos des selbsternannten sogenannten Islamischen Staats deswegen eine solch schockierende Wirkung, weil da die Bildsprache eine ganz archaische ist. Da geht es auf einmal darum, jemanden den Kopf abzuschlagen respektive die Kehle durchzuschneiden. Das sind sehr mittelalterlich anmutende Verhaltensweisen.

"Die Medien führen dazu, dass wir ein künstliches Bild des Krieges haben"

Neitzel: Und doch waren sie immer Teil des Krieges. Das ist ganz interessant. Ich würde Ihnen recht geben, dass diese Videos etwas archaisches zurückbringen, was aber immer Teil des Krieges war. Auch die Lust am Töten, der Spaß am Töten war immer Teil des Krieges. Schauen Sie sich nur mal die YouTube-Videos an, die Soldaten mit ihrer Helmkamera drehen. Kann ich jedem mal empfehlen, um ein Bild des Krieges zu bekommen. Da spürt man auch das Archaische des Krieges, das Männliche, die Inszenierung, auch den Spaß am Töten, der auch in diesen IS-Videos zum Teil reproduziert wird. Das alles kommt in der offiziellen Berichterstattung, die dann auch zum Teil gelenkt ist durch die Verteidigungsministerien, so nicht zum Tragen. Deswegen unser Erstaunen. Ich kann als Militärhistoriker, als Gewalthistoriker immer nur sagen, Leute, wundert euch nicht, das war immer Teil des Krieges. Wir sind in einem absurden Zustand, dass wir eigentlich alles wissen können in einer Wissensgesellschaft, Echtzeit, Google Earth und so weiter wie nie zuvor, aber zum gleichen Zeitpunkt führen diese Medien dazu, dass wir eigentlich ein künstliches Bild des Krieges haben.
Welty: Ist vielleicht auch so ein Schutzmechanismus.
Neitzel: Es ist ein Schutzmechanismus, weil wir natürlich dem ausweichen und weil Gewalt in unserer Gesellschaft längst nicht mehr die Rolle spielt, wie sie vor 100 Jahren spielt, als noch viel mehr Menschen etwa in der Landwirtschaft tätig waren, selber geschlachtet haben. Ich kann heute ganz sicher in die U4 steigen hier ins Studio und bin relativ sicher, hier unversehrt anzukommen und auch wieder zurückzukommen. Deswegen sagen viele, dass etwa die IS-Kämpfer oder die Taliban in der Art und Weise, wie sie Krieg führen, den McDonald-verwöhnten Soldaten des Westens auch im Kampf überlegen sind.
Welty: Die Schlacht von Verdun ist zwar 100 Jahre her, prägt aber unser Bild von Krieg und Gewalt bis heute. Der Historiker Sönke Neitzel hat uns erklärt, warum das so ist, und ich danke für den Besuch hier in "Studio 9" und für das Gespräch, das wir aufgezeichnet haben.
Neitzel: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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