Michael Sommer: Es droht eine verlorene Generation

Michael Sommer im Gespräch mit Gabi Wuttke · 25.08.2011
Der Präsident des Internationalen Gewerkschaftsbundes, DGB-Chef Michael Sommer, hat vor den Ausmaßen der globalen Jugendarbeitslosigkeit gewarnt. Dass Deutschland bessere Zahlen habe, sei ein gemeinsamer Erfolg von Regierung und Sozialpartnern, so Sommer.
Gabi Wuttke: "Politik mit ungedeckten Wechseln auf die Zukunft ist an ihr Ende gekommen", hat Bundespräsident Christian Wulff gestern gesagt, und "die Versündigung an der jungen Generation muss ein Ende haben". Ein Satz, dem nicht zu widersprechen ist, schon gar nicht angesichts der jetzt offen zutage getragenen Proteste junger, gut ausgebildeter Arbeitsloser in Nordafrika, in Griechenland, Spanien, Portugal oder Israel. Um 7 Uhr 49 ist Michael Sommer am Telefon, heute Morgen in seiner Funktion als Präsident des Internationalen Gewerkschaftsbundes, dem über 300 Gewerkschaften aus 153 Ländern angehören. Guten Morgen, Herr Sommer!

Michael Sommer: Guten Morgen!

Wuttke: Für einen Gewerkschafter dürfte Sünde den Kern des Problems nicht treffen, oder kann Politik doch auch sündigen?

Sommer: Na, Sünde ist sicherlich eine moralische Kategorie, aber für die jungen Menschen ist natürlich das, was sie erfahren in vielen Ländern dieser Erde, übrigens auch in vielen Ländern Europas, schlicht und ergreifend eine Katastrophe. Deren Zukunftschancen werden verbaut und versaut.

Übrigens auch, wenn ich daran erinnern darf, wir haben ja momentan in Deutschland eine bessere Situation auch dank der demografischen Entwicklung, was Jugendarbeitslosigkeit anbetrifft, weil wir haben immer noch Hunderttausende von jungen Menschen, die in Warteschleifen sind, wir haben über 1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 29, die keine Berufsausbildung haben und damit kaum eine anständige Lebensperspektive haben und wo für viele die Hartz-IV-Karriere vorgezeichnet ist. Das ist mehr als eine Sünde. Für diese Menschen ist das eigentlich auch mehr als eine Katastrophe – es ist eigentlich das Rauben von Lebenschancen.

Wuttke: Die Statistik, Sie sagen es, besagt, dass in Deutschland jeder neunte Jugendliche ohne Arbeit ist, nach Berechnung der Bundesarbeitsagentur sogar nur knapp jeder siebente, damit hat es die Jugend in Deutschland relativ gut. Also bleiben wir mal dabei, was wird denn in Deutschland besser gemacht?

Sommer: Na, wir haben … Einmal ist es dank des besseren Bevölkerungsaufbaus jetzt, oder besser: Auf der anderen Seite Probleme macht, was die zunehmende Veralterung der Gesellschaft anbetrifft. Aber ich glaube, wenn Sie fragen, was besser gemacht worden ist, ich glaube, dass wir besser aus der Krise gekommen sind – übrigens dank einer Politik, die der Bundespräsident dann selber wieder ankreidet, also da müssten wir vielleicht noch mal uns dran nähern. Der zweite Punkt …

Wuttke: Schau'n wir mal.

Sommer: Ja, ja … der zweite Punkt ist der, glaube ich, dass wir relativ konsequent in dieser Gesellschaft schon wissen und schon einen Blick darauf haben, dass man jungen Menschen Zukunftschancen nicht verbauen darf. Das sind die Gewerkschaften auf der einen Seite, es ist aber auch das Handwerk. Das sind die Industrie- und Handelskammern, die mit uns zusammen Berufsausbildung machen, das ist das duale System, das ist die Tatsache, dass wir trotz vieler Maläsen immer noch ja doch eine gute Quote an jungen Menschen auch an die Hochschulen bringen – das ist die positive Seite. Ich könnte Ihnen jetzt auch die negative sagen: Wir haben zum Beispiel die Situation, dass nach wie vor viele junge Menschen, die aus Arbeiterfamilien kommen, überhaupt keine Chance haben auf höhere Bildung und, und, und, und.

Aber nichtsdestotrotz insgesamt glaube ich, dass wir heute bessere Zahlen haben als andere europäische Länder, hat schlicht und ergreifend was damit zu tun, dass wir besser aus der Krise gekommen sind und besser die Krise gemeistert haben. Das ist schon ein Erfolg deutscher Politik, übrigens gemeinsamer Politik von Regierung und Sozialpartnern, ohne die das nicht gegangen wäre. Dazu kommt noch die demografische Entwicklung, die uns dazu geführt hat, dass wir da tatsächlich besser rausgekommen sind.

Wuttke: Also ich gebe zum einen das Lob gerne ans Regierungsviertel weiter, aber geht das dann für Sie in diesen schweren Zeiten nun darum, den Status quo zu halten oder was ist nötig? Auch der demografische Faktor, damit ist ja Deutschland nicht allein, sondern in Niederlanden und in Österreich, die haben dasselbe Problem, aber noch niedrigere Arbeitslosenquoten bei den Jugendlichen.

Sommer: Ja, es gibt aber, wenn Sie schon auf den europäischen Vergleich abheben, Frau Wuttke, darf ich Ihnen nur sagen, es gibt nur diese drei Länder, die in Deutschland eine Jugendarbeitslosenquote unter zehn, also die in Europa eine Jugendarbeitslosenquote unter zehn Prozent haben. Alle anderen liegen weit drüber. Spitzenreiter ist derzeit Spanien mit 44,4 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, junge Menschen unter 25, die arbeitslos sind, eine unglaublich unvorstellbare große Zahl. Sie könnten nach Großbritannien gehen, Kroatien gehen, ich kann mit Ihnen einmal die europäische Landkarte durchgehen und Sie sind erschüttert und erstaunt.

Ich sage Ihnen, das Problem ist, dass wir diesen Menschen eins bieten müssen: Bildungsperspektiven und Arbeitsperspektiven. Und wenn wir beides nicht schaffen, dann ist es tatsächlich das, was der Bundespräsident gestern als die verlorene Generation bezeichnet hat. Und dann kommt natürlich die entscheidende Frage: Wie mache ich das? Das mache ich nicht, indem ich einen armen Staat schaffe, in dem ich in Bankenrettungspakete investiere, aber nicht in Bildung, indem ich diejenigen, die die Krisen verursacht haben, ungeschoren lasse und die Krisenverlierer praktisch noch sozial bezahlen lasse. Das geht alles nicht. Das sind übrigens Punkte, die ja leider der Bundespräsident gestern nicht angesprochen hat.

Wuttke: Also, halten wir noch mal fest: Gut ausgebildete junge Menschen – bleiben wir bei dieser Klientel –, die verzweifelt einen Einstieg ins Berufsleben suchen, das sind in der Regel keine Gewerkschaftsmitglieder, Herr Sommer. Um Ihr Wort aufzugreifen: Wie mache ich das? Die Frage an Sie: Was machen die Gewerkschaften, um diese Klientel auf sich aufmerksam zu machen?

Sommer: Na, erst mal versuchen wir, einen anständigen Sozialarbeitsmarkt und makroökonomische Politik zu machen. Ich bleibe noch mal bei dem Beispiel der Krise. Die Gewerkschaften haben in der Krise zwei Sachen durchgesetzt: Sie haben durchgesetzt, dass es wirklich Konjunktur stützende Programme gibt – ich war gestern noch ein Berliner Krankenhaus besucht, wo die mir gesagt haben, wir hätten die Station nicht erneuern können, wenn ihr das nicht gemacht hättet. Und das Zweite ist: Was wir gemacht haben, ist, dass wir gesagt haben, wir wollen tatsächlich in die Zukunft investieren und das auch gerecht.

Das Dritte ist: Was wir machen müssen, ist, dass wir den jungen Menschen das nicht nur sagen, wir sind da, sondern auch mit ihnen zusammen versuchen, Zukunft zu gestalten und auch ihr Leben zu gestalten und auch ihre Anforderungen aufzunehmen. Unsere DGB-Jugend zum Beispiel macht momentan eine Aktion, wo die auf junge Menschen zugehen – übrigens die Gewerkschaften auch, die Einzelgewerkschaften – mit der Frage: Her mit dem besseren Leben, was wollt ihr eigentlich vom Leben?

Und wenn Sie das sehen, dann kriegen Sie immer wieder, dass die jungen Menschen zweierlei wollen. Sie wollen auf der einen Seite sicherere Lebenschancen haben, auch eine Perspektive, dass sie, ich sag mal, relativ stabil durchs Leben gehen können, und auf der anderen Seite wollen sie auch einen bestimmten Freiheitsgrad auch in der Arbeit haben. Und ich glaube, beidem muss man entsprechen, beides muss man erfüllen. Und wenn wir da in der Hinsicht auf die jungen Menschen zugehen, dann haben wir auch Erfolge.

Übrigens, wenn ich das noch sagen darf: Entgegen der landläufigen Meinung steigen die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften bei jungen Menschen in den letzten Jahren, und zwar konstant bei den berufstätigen jungen Menschen. Das Grundproblem ist nur, dass wir über lange Jahre auch in Deutschland junge Gewerkschaftsmitglieder deshalb überhaupt nicht werben konnten, weil die arbeitslos waren. In dem Moment …

Wuttke: Klar.

Sommer: … wo wir sie vor der Arbeitslosigkeit bewahren, ist es für die besser, und übrigens auch die Organisationschancen für die Gewerkschaften sind besser.

Wuttke: Ja, klar. Und wer überhaupt noch gar nicht ins Berufsleben einsteigen konnte, ist natürlich dann per se kein Gewerkschaftsmitglied.

Sommer: So ist es.

Wuttke: Das hat natürlich eine innere Logik. Aber Sie sagen, die Gewerkschaften tun eine ganze Menge, machen Angebote, versuchen hier und da vielleicht auch mal ein kleines Türchen einzurennen, aber was genau kann der Internationale Gewerkschaftsbund denn tun, was hat er getan? Denn – und damit kommen wir auf die letzte Zahl zurück – jeder fünfte Jugendliche in Europa ist nun trotzdem arbeitslos.

Sommer: Also erstens haben Sie darauf hingewiesen, dass es der Internationale Gewerkschaftsbund ist, wir haben jetzt noch gar nicht geredet über die Situation von jungen Menschen zum Beispiel in Südafrika, die zwischen Schulabgang und dem ersten Berufseinstieg im Durchschnitt eine Verweildauer von zehn Jahren haben. Sie müssen sich mal vorstellen, was das heißt für die Verwahrlosung auch einer Gesellschaft.

Wuttke: Werden wir heute aber nicht mehr schaffen.

Sommer: Nein, das werden wir heute nicht mehr schaffen, deswegen, ich bin ja ganz froh, dass Deutschlandradio dieses Thema mal von einer anderen Seite beleuchtet und vielleicht auch einen Blick einfach drauf wirft. Aber bleiben wir noch mal in Europa.

Wuttke: Ganz kurz!

Sommer: Wenn Sie den jungen Menschen nicht die Perspektive geben, dass die Staaten für ein vernünftig durchfinanziertes Bildungssystem sorgen, in dem jeder eine Chance hat, wenn Sie nicht klassisch Programme auflegen, um Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, und wenn Sie nicht insgesamt in der Lage sind, die Ökonomie zu stützen, dann werden Sie das erleben, was wir derzeit in Spanien erleben, diese verlorene Generation, die übrigens mit niemandem mehr was zu tun haben will, übrigens auch sehr stark meine spanischen Gewerkschaftskollegen kritisiert - so nach dem Motto: Ihr redet nur und ihr tut nichts für uns. Und ich sage Ihnen, wenn wir konkret was tun wollen, dann sind das viele Einzelschritte, um diesen jungen Menschen Lebensperspektiven zu geben. Und die Lebensperspektive, auch für junge Menschen, heißt Arbeit und Bildung.

Wuttke: Die Jugend, die Arbeit und die Zukunft. Dazu im Interview der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur DGB-Chef Michael Sommer, auch Präsident des Internationalen Gewerkschaftsbundes. Vielen Dank, Herr Sommer, schönen Tag!

Sommer: Bitte schön!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.



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