MDR-Sinfonieorchester im Jahrhundertschritt

Selbstbefragungen

Der russische Komponist und Pianist Alfred Schnittke, schwarz-weiß-Aufnahme, an einem Klavier sitzend, in die Kamera blickend.
Der russische Komponist und Pianist Alfred Schnittke. © dpa/picture alliance/Tass
01.08.2017
1889 brachte Anton Bruckner seine 3. Sinfonie in die heute übliche Fassung, und genau ein Jahrhundert später schrieb Alfred Schnittke seinen "Monolog" – eine Konstellation, die Räume zum Nachdenken öffnet…
Denn beide Arbeiten sind, so verschieden sie in ihrer Klanggestalt erscheinen, Zeugnisse intensiver Selbstbefragung. Für den Österreicher lag die "Urkomposition" seiner d-Moll-Sinfonie schon 15 Jahre zurück. Sie war damals als klingendes Dokument seiner Verehrung für Richard Wagner gedacht und wurde doch etwas ganz anderes: eine Art Selbstporträt, zerrissen zwischen derber Lebenslust, lyrischen Träumereien und düsteren Todesahnungen, die bei ihm allesamt zum Ringen um die Sinnerfülltheit des Menschseins gehören. Bruckners späte Überarbeitung versuchte die Dialektik der unterschiedlichen Gedankenkreise noch zu schärfen, indem sie einige Seitenzweige kappte und die Themenkontraste manchmal zu bestürzend harten Gegenschnitten verdichtete.
Schnittke dagegen schuf sein Stück für Solobratsche und Orchester in einer Lebensphase, als sich ihm viele existenzielle Grundfragen stellten: wenige Jahre vorher nach einem Schlaganfall nur knapp ins Leben zurückgeholt und gleichzeitig angesichts der Perestroika-Gärungen mit dem Problem konfrontiert, wo und wie er sein kreatives Potenzial für die absehbar knapper werdende Zeit am besten einsetzen könnte. Praktisch beantwortete er sie mit seiner baldigen Übersiedelung aus der sich auflösenden Sowjetunion nach Hamburg, in dem Musikstück aber zunächst mit einer still-eindringlichen und illusionslosen, doch nie bitteren Zwischenbilanz.
Eine interessante Begegnung bringt schließlich auch das Eingangsstück des Programms, die Kammersinfonie des Georgiers Sulchan Nassidse aus dem Jahre 1969 – gleich in ihrem Einleitungsteil eine motorisch angespannte, ruhelose Musik, die von problemgeladenen Zeiten spricht.


Gewandhaus Leipzig
Aufzeichnung vom 07.05.2017
Sulchan Nassidse
Kammersinfonie Nr. 3
Alfred Schnittke
"Monolog" für Viola und Streichorchester
Anton Bruckner
Sinfonie Nr. 3 d-Moll (Fassung von 1889)
Antoine Tamestit, Viola
MDR Sinfonieorchester
Leitung: Karl-Heinz Steffens