Marikana-Massaker

Offene Wunden

Eine große Menge afrikanischer Männer im Sitzstreik - im Vordergrund hält ein schreiender Mann das großformatige Foto eines jungen Mannes hoch, - es ist eines deerTodesopfer der blutigen Niederschlagung des Bergarbeiterstreiks südafrikanischen Marikanas
Streikende Bergarbeiter halten Bilder ihrer von der Polizei getöteten Kollegen hoch. © dpa picture alliance/ Kim Ludbrook/File
Von Leonie March |
Im August 2012 ging die südafrikanische Polizei brutal gegen streikende Bergarbeiter vor. Sie erschoss mehr als 30 Männer. Die Aufarbeitung des Massakers ist noch nicht beendet. Rehad Desai will mit seinem Film zur Aufklärung beitragen – und legt den Finger gleich in mehrere Wunden.
Der Kameramann rennt, die Bilder sind verwackelt. Dann eröffnet die Polizei das Feuer. Staub wirbelt auf. Als er sich legt, liegen mehrere Menschen am Boden. Zuerst scheint es, sie seien alle tot, bis sich ein verwunderter Bergarbeiter mühsam aufrappelt. Schock und Ungläubigkeit in den Augen. Keiner hilft ihm. Erst nach einer Stunde habe die Polizei Notärzte auf das Gelände gelassen, heißt es in "Miners Shot Down". Es ist nicht der einzige Vorwurf, den Regisseur Rehad Desai in seinem Dokumentarfilm erhebt:
"Die offizielle Version der Geschichte, die von den Medien, der Regierung und der Polizei verbreitet wird, lautet: Die Polizisten wurden von den streikenden Bergarbeitern angegriffen und mussten sich selbst verteidigen. Mein Film belegt, dass dies schlicht gelogen ist. Die Polizei setzte scharfe Munition ein. Schon Stunden vor dem Massaker fuhren mehrere Leichenwagen vor. Noch belastender ist jedoch, dass die Polizisten, nachdem sie die ersten 17 Bergarbeiter erschossen hatten, regelrecht Jagd auf die Flüchtenden machte. Sie kesselten sie ein und töteten sie aus kurzer Entfernung. Weitere 17 Menschen."
Publikum reagiert mit Schock und Wut
Eindrucksvoll verknüpft der Regisseur eigenes Filmmaterial mit Videos der Polizei und privater Sicherheitskräfte zu einer schockierenden Chronologie der Ereignisse. Ihn selbst hat es tief getroffen, dass die demokratisch gewählte Regierung unter der ehemaligen Freiheitsbewegung ANC derart brutal gegen die Bevölkerung vorgeht:
"Ich komme aus einer ANC-Familie. Ich habe einen britischen Akzent, weil ich in London im Exil aufgewachsen bin. Dass der ANC und unsere Polizei heute in so etwas verwickelt sind, war traumatisch für mich. Sowohl emotional, als auch politisch."
Mit Schock und Wut reagiert auch das Publikum bei Previews in Südafrika auf den Dokumentarfilm. Er fühle sich anhand der blutigen Szenen des Films an die Polizeieinsätze während der Apartheid erinnert - an das Massaker von Sharpeville 1960 oder den Schüleraufstand von Soweto 1976 - sagt ein Zuschauer bei einer Podiumsdiskussion an der Universität von Kapstadt.
"Massaker sind ein Ausdruck der Staatsgewalt. In diesen Momenten sehen die Menschen das wahre Gesicht des jeweiligen Regimes. Insofern können sie auch weitreichende politische Konsequenzen haben."
Noch aber gab es weder Rücktritte noch Verurteilungen. Der ANC wurde gerade erst wiedergewählt und kann weiter mit absoluter Mehrheit regieren. Eine Untersuchungskommission beschäftigt sich auch nach fast zwei Jahren noch mit den Fragen, wie es zu dem "Massaker von Marikana" kommen konnte und wer dafür verantwortlich ist. Gestützt auf Email- und Gesprächsprotokolle vertritt Rehad Desai in seinem Film eine brisante These.
"Die größere politische Geschichte ist, dass sich Südafrikas neuer millionenschwerer Vize-Präsident, Cyril Ramaphosa, energisch dafür eingesetzt hat, den Streik mit Polizeigewalt zu brechen. Er selbst hielt damals zehn Prozent der Anteile an dem Bergbauunternehmen. Es gab also eine massive Absprache zwischen dem Konzern, dem Staat und der Polizei."
Wirtschaftliche Interessen stehen über denen der Bevölkerung
Rehad Desai zeichnet in seinem Film ein Bild eines Landes, das seine Vergangenheit als Polizeistaat noch nicht überwunden hat, in dem wirtschaftliche Interessen über jene der Bevölkerung gestellt werden und in dem Politiker, die selbst einmal Freiheitskämpfer und Gewerkschafter waren, ihre Ideale und damit auch ihr Volk verraten. Auch das hinterlässt bei den Zuschauern mehr als nur einen schalen Geschmack.
"Die Frage, die sich mir stellt, ist was unsere in der Verfassung festgeschriebene Meinungsfreiheit tatsächlich bedeutet. Wie groß ist der Fortschritt seit dem Apartheid-Regime? Was bringt das Konzept der Demokratie der Bevölkerungsmehrheit - bleibt es ein Mythos oder ist es tatsächlich greifbar?"
Die Fragen zeigen, dass "Miners Shot Down" viel mehr ist als nur die Chronologie eines bislang ungeklärten Massakers. Die Dokumentation legt den Finger gleich in mehrere Wunden und wird hoffentlich nach dem Kinostart eine breite gesellschaftliche Diskussion anregen.
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