"Man braucht auch eine Persönlichkeitsentwicklung"

Rainer Holzinger im Gespräch mit Alexandra Mangel · 03.02.2011
Der Psychologe Rainer Holzinger therapiert Musiker, die dem Leistungsdruck nicht mehr standgehalten haben. "Das beginnt meistens mit irgendeinem Angstphänomen", sagt Holzinger.
Alexandra Mangel: Zwei Musik-Wunderkinder wollte die chinesische "Tigermutter" Amy Chua sich heranziehen, ihre ältere Tochter schaffte es dank strengsten Übungsdrills auch bis zum Konzert in die Carnegie Hall, die jüngere aber, für die Amy Chua die Geige vorgesehen hatte, die rebellierte. Und Amy Chua beschreibt in ihrem Buch "Mutter des Erfolgs" nun detailliert, wie sie versuchte, den Widerwillen der Tochter zu brechen.

Sie drohte, ihre Stofftiere zu verbrennen, Mittagessen, Abendessen und die Geburtstagspartys für die nächsten vier Jahre zu streichen, sie ließ sie nicht mehr auf die Toilette, bis das Stück perfekt saß. Einer, der ziemlich genau weiß, was der Zwang zur Perfektion mit angehenden Berufsmusikern, gerade mit sogenannten Wunderkindern macht, ist der Musikpsychologe Rainer Holzinger. Er unterrichtet am Anton-Bruckner-Privatinstitut in Linz, und er therapiert Musiker, die dem Leistungsdruck nicht mehr standgehalten haben. Guten Morgen, Herr Holzinger!

Rainer Holzinger: Ja, guten Tag!

Mangel: Wenn Amy Chua mit ihrer jüngeren Tochter zu Ihnen gekommen wäre und Ihnen ihren Übungsdrill beschrieben hätte, wie hätten sie reagiert?

Holzinger: Ich hätte mir die Tochter mal separat angeschaut, und dann hätten wir auch gesehen, ob in dieser Tochter auch eine Eigenmotivation liegt, weil die neben dem Talent natürlich Grundvoraussetzung wäre für eine spätere Karriere. Man braucht auch eine Persönlichkeitsentwicklung, nicht nur den Drill von der Mutter.

Mangel: Und was hätten Sie zu den speziellen Methoden von Frau Chua gesagt?

Holzinger: Diese Methoden sind im Grunde genommen eher Angst erzeugend und machen aus der Tochter ein devotes Wesen, das versucht zu funktionieren. Ich hätte ganz umgekehrt mal geschaut, was steckt in der Tochter und was kann man neben dem Talent dann auch fördern, um sie auch von der Persönlichkeit her so vorzubereiten, dass sie dem Druck später auf einer Bühne auch wirklich standhält.

Mangel: Da sagt Frau Chua ja, dass das genau ihr Ziel ist, dass der beste Schutz für ihre Tochter der sei, sie durch eiserne Disziplin erkennen zu lassen, wozu sie imstande ist. Leuchtet Ihnen das ein als Argument?

Holzinger: Na ja, das geht in Richtung, ob Perfektionismus anzustreben sei und Zwang und 100-prozentigen Funktionierens. Das ist nur bedingt richtig. Also man muss diesen Leuten schon Perfektion abverlangen, aber immer nur punktuell, und vor allen Dingen muss man eine Unterscheidung immer machen, nämlich verlangt man diese Art von Zwang, verlangt man den von der Person oder nur vom Verhalten der Person. Das wäre für mich die erste Frage gewesen, ob die Tochter das spürt, dass da, wenn sie Fehler macht, nicht sie bestraft wird, sondern das Verhalten bestraft wird.

Und wenn diese Differenzierung gewesen wäre, dann ist das nicht so schlimm. Wenn das aber immer so ineinander übergeht, dann haben wir ein Problem, weil dann nimmt diese Person das von klein auf persönlich im wahrsten Sinne des Wortes, und dann beginnt man sich immer nur mit dem Hopp oder Tropp der Geigenkarriere zu identifizieren. Und dann hat man genau solche Wunderkinder, die, wenn es ihnen gut geht, dann sind sie scheinbar gesund, wenn es ihnen schlecht geht – auf der Geige meine ich jetzt speziell –, dann sind sie fast nicht mehr lebensfähig.

Mangel: Sie arbeiten ja mit genau solchen Wunderkindern, und es ist ja so, dass für eine Solokarriere in der klassischen Musik die Kinder schon sehr früh sehr hart arbeiten, und wie hoch der Preis sein kann, zeigt ja zum Beispiel der Fall der chinesischen Stargeigerin Midori, die dem Druck eben nicht standhielt, magersüchtig wurde, jahrelang in der geschlossenen Psychiatrie untergebracht war. Was erleben Sie denn in Ihrer therapeutischen Praxis, also was für Geschichten hören Sie da?

Holzinger: Ich höre meistens zwei Arten von Fällen im Sinne von der Spitze weg in ein Loch zu fallen. Das eine ist schon während der Karriere, zwischen 10 und 12, 13, wo die erste Rebellion kommt des Kindes. Da kann es sein, dass es letztendlich an der Beziehung zum Geigenlehrer, zum Klavierlehrer oder auch zu den Eltern gescheitert hat. Der zweite Fall, von der Spitze zu fallen, ist aber ein bisschen später, da beginnt nämlich das Hirn sich auszubilden und sich selbst immer besser zu analysieren.

Und wenn da diese Kinder nicht gelernt haben, den Perfektionismus immer nur punktgenau von sich selbst abzuverlangen, dann kommen sie in eine Tendenz, immer mehr zu hinterfragen. Zum Beispiel der Stargeiger Yehudi Menuhin beschreibt das ganz gut in einem Buch: Dann beginnt er immer mehr, an sich zu zweifeln, und er beginnt auch an Automatismen, an Sachen, die sie im Grunde genommen sehr gut schon können, zu zweifeln, zu hinterfragen. Und genau dieser analytische Moment, der dann beginnt, meistens im Alter zwischen zwölf, 13 bis 15, 16, da beginnt man sich dann selber im Weg zu stehen. Und es ist meistens der zweite Punkt, wo Wunderkinder, die sehr bald zum Perfektionismus getrimmt worden sind, dann zu Fall gebracht werden können.

Mangel: Man sieht ja hier auch bei Amy Chua, dass die beiden Kinder ganz unterschiedlich reagieren. Also die eine fügt sich, die entwickelt sich scheinbar sehr gut, die andere verweigert sich irgendwann völlig, wehrt sich, schreit die Mutter auch an, gibt die Geige dann auch irgendwann auf. Wovon ist das denn abhängig, ob ein Kind unter dem Druck funktioniert oder wie lange das Kind "funktioniert", in Anführungszeichen, oder ob es zerbricht?

Holzinger: Das ist ein bisschen schwierig, diese Frage generell zu beantworten, es gibt aber sogenannte Temperamentsdispositionen in Kindern, ob sie eher Risikos eingehen, sprich auf Distanz gehen, auch in Konfliktsituationen versuchen sich durchzusetzen, oder ob sie sehr bald harmoniesüchtig werden. Und Menschen, die immer gelernt haben, funktionieren zu müssen, sind eher letztere Gattung, das heißt, sie sind eher harmoniesüchtig, und wenn dann nicht dieses pubertäre Rebellionsartige gegen die Eltern kommt, dann kann es sein, dass sie eben sich viel länger dem Ganzen hingeben, als es ihnen gut tut.

Das heißt, diese Rebellion der einen Tochter wäre im Grunde genommen eine gesunde Reaktion, wo wieder die Mutter jetzt an der Reihe gewesen wäre, mit Respekt und einem gewissen Vorleben da auch noch mal hinzuweisen, was will ich eigentlich. Will ich nur eine gut Funktionierende, wogegen sich die Tochter auch zu Recht gewehrt hat oder will ich jemandem helfen, eine Karriere zu machen, und unterstütze sie. Das kommt da in dem Buch nicht immer ganz klar heraus, es ist einmal so, einmal so. Einmal spricht sie von, sie will ja die Kinder lieben, auf der anderen Seite verwechselt sie immer dieses Lieben mit Anerkennung.

Mangel: Ich würde auch gerne noch einmal auf die Mutter kommen. Amy Chua beschreibt in ihrem Buch, wie oft sie gefragt wird, ob sie das dann wirklich alles für die Töchter tue, also all die Zeit, der Stress, die Anstrengung. Sie ist ja auch immer dabei, sie treibt die Töchter ständig an, ständiger Konflikt und Streit. Und sie gibt da selbst auch zu, dass es sein könnte, dass sie sich selbst was vormacht, dass sie doch auch ein eigenes Interesse verfolgt. Was ist denn Ihre Erfahrung, was treibt diese Eltern denn eigentlich an?

Holzinger: Na ja, es gibt in der Psychologie etwas, das nennt sich Projektion, das heißt, man versucht, eigene Bedürfnisse, Motive in andere Menschen hineinzuprojizieren. Das heißt, die Mutter hätte gerne eine Geigenkarriere gemacht, eine Pianistinnenkarriere, und das hat sie nicht geschafft, jetzt will sie, dass die Tochter das bekommt. Und das wird dann unter dem Deckmantel oft auch unbewusst eben verkauft: Ich will nur das Beste für das Kind. Und solche Kinder sind dann, man würde nicht sagen intrinsisch von sich aus motiviert, was ja sehr wichtig wäre für eine Berufskarriere, sondern sie sind muttiviert, also Mutti wie die Mutti, beziehungsweise vativiert, je nachdem.

Mangel: Wir sprechen im "Radiofeuilleton" mit dem Musikpsychologen Rainer Holzinger über "Die Mutter des Erfolgs", Amy Chua, die ihre beiden Töchter durch harten Drill zu musikalischen Wunderkindern erziehen wollte. Herr Holzinger, ein anderes gedrilltes Wunderkind kann man ja gerade auf der Kinoleinwand sehen, den "Schwarzen Schwan" von Natalie Portman, eine junge Frau, die die Primaballerina-Karriere leben soll, die ihre Mutter eben auch nicht hatte. Und wenn man diesen Film sieht, fällt einem vor allem auf, dass diese Frau keine Freude am Tanz mehr empfinden kann, anders als eben die Konkurrentin, vor der sie sich auch fürchtet. Können die Kinder und die Erwachsenen, die zu Ihnen kommen, überhaupt noch Freude an der Musik empfinden?

Holzinger: Genau das ist der springende Punkt: Es geht dann gar nicht mehr um die Musik, sondern es geht darum, gut zu sein in der Musik. Und das ist so die Differenzialdiagnose, die ich dann immer stelle, unter Anführungszeichen. Wenn es dem Kind noch um die Musik geht, nämlich dass die Musik oder eben das Tanzen dann zu ihrem Lebensmittelpunkt gehört und da auch weiterhin bestrebt ist, dass das so bleibt, dann habe ich kein Problem, dann ist auch der Perfektionismus immer in einer richtigen Position. Wenn es aber nur darum geht, dass Musik oder Tanz Mittel zum Zweck ist, in dem Sinn Mittel, um geliebt zu werden – von den Eltern, vom Umfeld –, dann wird es schwierig.

Mangel: Und welche seelischen Folgen hat das dann für die Kinder oder kann es haben?

Holzinger: Also das beginnt meistens mit irgendeinem Angstphänomen, dass sie Auftrittsangst bekommen oder dass sie auch soziale Ängste bekommen, dass sie dann perfektionistisch werden bis zur Zwangsstörung. Das heißt, solche Leute haben oft ein Leben, das ist nunmehr ritualisiert, sie versuchen alles zu kontrollieren, bis hin auch zur Depression. Das ist dann wieder eine Typfrage, ob man eben rebelliert, aggressiv wird oder ob man sich zurückzieht, alles über sich ergehen lässt. Beides stört natürlich die Karriere, und es kommt dann meistens in der Pubertät noch zum ersten Bruch.

Mangel: Aber was Sie gerade gesagt haben, das heißt auch, es gibt Wunderkinder auch ohne diesen Drill, oder würde es die gar nicht geben ohne diesen Drill?

Holzinger: Ein gewisser Drill im Sinne von Pflicht zur Perfektion geht nicht. Wir brauchen Disziplin, wir brauchen Perfektionismus, nur wichtig ist, dass dieser Perfektionismus nicht überhand nimmt. Das heißt, das Wunderkind, der Musiker in spe, muss Steuermann des Perfektionismus bleiben und nicht Sklave des Perfektionismus.

Und es ist auch wichtig, diese Perfektion nicht auf die Bühne mitzunehmen, sondern vor der Bühne perfektionistisch sich vorzubereiten, um dann auf der Bühne wieder das Lebeelement der Musik genießen zu können und dann nach dem Konzert wieder in Perfektionismus, aber in konstruktivem Perfektionismus sich weiter vorzubereiten.

Mangel: Wenn nun diese Kinder oder Erwachsenen mit allen möglichen Angststörungen bei Ihnen landen, was können Sie denn dann in der Therapie noch bewirken? Kann man die Freude an dieser Tätigkeit dann wieder herstellen?

Holzinger: Das kann man schon. Man muss nur wirklich einmal denen zeigen, was mit ihnen passiert ist, was aus der ursprünglich meist vorhandenen Freude an der Musik geworden ist. Man braucht wieder einen gewissen Wertewandel und man muss auch versuchen, dass man den Personen wieder sagt, sie sind nicht nur die Musik, sie sind nicht nur der Tanz und der Part, sie sind mehr.

Ich muss dem Schüler, der Schülerin wieder zeigen: Bitte, pass auf, du bist nicht nur Geige, du bist nicht nur Klavier, du bist mehr, du bist Mensch. Und dieser Klavier spielende Teil, dieser tanzende Teil oder was auch immer ist ein Teil von dir. Und den versuchst du gut zu gestalten, gut zu entwickeln. Aber dahinter steckt eine Person, die – ganz ungeachtet dessen, ob diese Person jetzt gut funktioniert oder schlecht funktioniert – immer eine gewisse Berechtigung hat, geliebt zu werden und auch da zu sein.

Mangel: Der Musikpsychologe Rainer Holzinger über die Erziehungsmethoden der chinesischen "Tigermutter" Amy Chua und über die seelischen Folgen für die Kinder. Dankeschön fürs Gespräch!

Holzinger: Bitte, gern!

Mangel: Und unsere Reihe über Amy Chuas Buch, "Die Mutter des Erfolgs", setzen wir auch morgen früh um kurz nach neun im "Radiofeuilleton" fort, dann mit dem Erziehungswissenschaftler Jürgen Henze, mit dem wir die chinesische und die westliche Erziehung vergleichen wollen.
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