Märchenhafte Urkost

Von Jutta Muth · 04.03.2006
Angeblich ist der moderne Mensch ein Opfer seiner Steinzeitgene. Während seine Ahnen noch Hungertücher benagten, lebt er plötzlich in einem unverdienten Wohlstand, mit dem er nicht klarkommt. Die Folgen sind Fettsucht, Diabetes, Herzkrankheiten, Alzheimer, ja sogar der Tod, schreibt Udo Pollmer in einem Artikel über die seltsamen Formen aktueller Steinzeitdiäten, die uns die Apologeten neuester Ernährungserkenntnisse verkaufen wollen.
Es ist schon erstaunlich, welche Blüten die Ernährungsmode derzeit treibt. Nun findet sogar eine "Steinzeitkost" Anklang - wohl aufgrund der nostalgischen Vorstellung, früher sei alles besser und vor allem natürlicher gewesen.

Die Theorie der Paläotrophologen klingt zunächst schlüssig: Das menschliche Genom hat sich seit der Steinzeit kaum verändert, weshalb wir entwicklungsbiologisch an die Lebensbedingungen von vor gut 40.000 Jahren angepasst sind. Unser Körper kommt daher (noch) nicht mit den Ernährungsgewohnheiten zurecht, die sich nach der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht vor rund 10.000 Jahren eingebürgert haben, geschweige denn mit den Errungenschaften der heutigen Lebensmittelindustrie. Die Folgen sind Übergewicht und Zivilisationskrankheiten wie Arteriosklerose, Diabetes oder Krebs. Weil aber Naturvölker, die auch heute noch als Jäger und Sammler leben, von diesen "Western diseases" verschont bleiben, kann angeblich jeder durch einen kulinarischen Trip in die Vergangenheit beschwerdefrei alt werden.

Ötzi an der Ostsee

Die wichtigsten Komponenten der viel gelobten Urkost sind Fleisch und Fisch. Allerdings werden sie den Ansprüchen des Steinzeitköstlers kaum mehr gerecht, da doch Züchtung, Mästung und Veterinärmedizin zu "minderwertigem" Fleisch führen, das mit der "kerngesunden" Jagdbeute der Naturvölker nur noch wenig gemein hat. Also empfehlen die Experten zuvörderst Wild oder auch Weidevieh wie zum Beispiel den neuseeländischen Hirsch. Dass dieser gar nicht in Neuseeland heimisch ist, sondern dort als Schädling gilt, stört dabei anscheinend genauso wenig wie der ökologisch unkorrekte Fleischtransport rund um den Globus. Fisch sollte im Rahmen der Steinzeitkost dreimal wöchentlich verzehrt werden und natürlich aus Wildfängen und nicht aus Teichen oder Aquakultur stammen. Da Kochsalz verpönt ist, braucht es reichlich Seefisch, um den Salzappetit des Ernährungsbewussten zu stillen. Bloß gut, dass uns heute eine moderne Hochseeflotte zur Verfügung steht, um so speisen zu können, wie es sich einst der stolze Besitzer eines Einbaums in seinen kühnsten Träumen gewünscht haben mag. Das dürfte vor allem für Delikatessen wie Garnelen, Kaviar, Krabben, Muscheln und Hummer gelten, die ebenfalls eine gut geführte Urküche bereichern sollen. Tja, so waren sie nun mal, die alten Steinzeitleute: Wenn Ötzi die Tiroler Alpen verließ, um an der Ostsee Badeurlaub zu machen, bestellte er flugs beim Drei-Faustkeile-Koch einen Krabbencocktail an Seezungenröllchen...

Im Windschatten der Globalisierung

Beim Obst haben sich die Nostalgiker in eine böse Zwickmühle manövriert: Einerseits ist Importware wegen der Kultivierung auf ausgelaugten Böden und der Ernte in unreifem Zustand vitaminarm und deshalb eines Paläoköstlers unwürdig. Andererseits hat sein Körper wegen der aktuellen Belastung durch Stress und Umweltgifte angeblich einen hohen Vitaminbedarf. Deshalb achtet er gerade im Winter darauf, genügend reifes, frisches Obst zu verzehren. Fazit: Importware nein, erntefrisches Obst im Winter ja. Nicht auszudenken, wo ein Steinzeitfan ohne Globalisierung und gut sortierte Supermärkte bliebe.

Was machte der Neandertaler, wenn er nicht gerade Mammuts jagte oder Südfrüchte importierte? Klar doch: Er ging in den Wald und sammelte Pilze. Und so kommt es, dass Pilzgerichte mindestens einmal pro Woche auf dem Speisezettel des Steinzeitköstlers stehen und ihm wohl deshalb als "wichtige Mineralstoffquelle" dienen, weil sie allerlei Schwermetalle und radioaktive Elemente enthalten. Die moderne Steinzeiternährung könnte also wie folgt aussehen: Der Mann begibt sich auf die Jagd (nach Geld), um die Familie mit Hirschragout und Langustenschwänzen zu versorgen, während seine Holde mit den Kindern auf der Suche nach Preiselbeeren, Pfifferlingen und Bärlauch durchs Unterholz streift.

Naturnahrung ohne Ende

Viele tatsächlich wichtige Bestandteile des Speiseplans von Steinzeit- und Naturvölkern fehlen in den vorliegenden Empfehlungen völlig: Maden, Spinnen, Würmer, Heuschrecken, Schlangen, Schnecken, Eidechsen, Mäuse und Ratten. Schließlich essen die meisten Naturvölker alles, was ihnen in die Finger kommt - und das nicht mit Überwindung, sondern mit Genuss. Den Gesundköstlern böten sich also ungeahnte Jagdgründe im heimischen Revier, zum Beispiel Silberfischchen im Bad, Spinnen im Schlafzimmer, Fliegen in der Küche, Mäuse im Keller oder Ratten im Kanal. Es mangelt folglich auch ohne Steinzeit-Fertigpizza nicht an kerngesunden Wildfängen für den verwöhnten Gaumen, der sich nach dem Geschmack der Wildnis sehnt. Zu Zubereitung und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Internet-Neandertaler!

Entnommen aus: EU.L.E.n.SPIEGEL 5-6/2005