Längere Haare gewagt

Von Georg Gruber · 08.02.2006
Anfang der 70er Jahre erreichte der Trend zum langen Haar die Bundeswehr. Wer heute vor 35 Jahren in die Kaserne einrückte, für den hieß es: Ab unter das Haarnetz! Der Haarnetzerlass vom Februar 1971 galt allerdings nur ein gutes Jahr, dann war Schluss mit der "German Hair Force", wie im Ausland gespottet wurde.
Vietnamkrieg, Notstandsgesetze, außerparlamentarische Opposition: Lange Haare wurden in den 60er Jahren auch in Deutschland zum Zeichen des Protests und der Auflehnung gegen überkommene Normen: Sie wuchsen über die Ohren, über den Hemdkragen. Doch am Kasernentor wartete die Schere:

"Das Tragen einer schulterlangen oder sonst feminin wirkenden Haartracht (zum Beispiel Beatle-Frisur) ist auch dann unzulässig, wenn sie gepflegt ist."

1971 fiel die letzte Bastion des Kurzhaarschnitts. Willy Brandt wollte mehr Demokratie wagen, Helmut Schmidt, sein Verteidigungsminister, längere Haare. Wer als Langhaariger am Montag, den 8. Februar 1971 seinen Dienst antrat, hatte Glück:

"Ich habe einen Erlass über Haar- und Barttracht in der Bundeswehr. Hier steht: Die Bundeswehr kann in ihrem Erscheinungsbild die Entwicklung des allgemeinen Geschmacks nicht unberücksichtigt lassen."

Doch die modische Freiheit war nicht grenzenlos:

"Haare und Bart müssen sauber und gepflegt sein. Soldaten, deren Funktionsfähigkeit und Sicherheit durch ihre Haartracht beeinträchtig wird, haben im Dienst ein Haarnetz zu tragen.""

Die Bundeswehr war in ihren Grundfesten erschüttert. Und die Langhaarigen? Trotzdem unzufrieden:

""Das Haarnetz sieht nicht wirklich aus wie ein Haarnetz, sondern wie so ein Netz von einem Rollschinken."

Rollschinken, olivgrün eingewickelt.

"Ich muss von 5.30 Uhr bis abends dieses Scheißding auf dem Kopf tragen, und die Haare fangen an zu beißen.""

Monatelang wurde in Deutschland erbittert über die angemessene Haartracht des deutschen Soldaten diskutiert.

"Hallo, Mädchen!" hieß eine Umfrage-Aktion des Soldatenkuriers: Welcher Haarschnitt kleidet den Bürger in Uniform am besten? Der traditionelle Kurzhaarschnitt kam nur auf knapp 18 Prozent. Von 415 Leserinnen entschieden sich fast 40 Prozent für halblange Haare, rund ein Viertel für schulterlang mit Bart - ziemlich progressiv.

Doch es gab auch Fundamentalkritik:

""Auf die Bäume, ihr Affen!"

"Deutschland muss sich ja schämen!"

Und die "Süddeutsche Zeitung" zitierte eine besorgte Mutter:

"Unser Holger war immer fleißig und ordentlich. Nun muss er zur Bundeswehr. Ich hab so Angst, dass er da verlottert."

German Hair Force – so spottete das Ausland. Deutschlands Würde, ja sogar Deutschlands Sicherheit schien in Gefahr. Ein Brigadegeneral der Bundeswehr warnte:

"Eine Vernachlässigung im Anzug und im Benehmen des Soldaten ist für jedermann der Beweis für eine schlechte Disziplin. Mit ihr steht und fällt aber der Abschreckungswert und damit der Friedensbeitrag der Truppe."

Auch ein Soldat mit langen Haaren könne ein guter Soldat sein, verteidigte Helmut Schmidt den Haarerlass:

"Es gehört leider zum klassischen Erbe des europäischen Soldatentums, dass das äußere Bild wichtiger genommen wurde als der innere Kern."

Schmidt wurde 1972 für den liberalen Erlass sogar mit einem Orden bedacht, dem "Orden wider den tierischen Ernst". Doch das war nicht der Grund, dass er den Haarerlass wenig später wieder einkassierte. Eher die Kritik des Wehrbeauftragten:

"Die Truppe ist schlampig und verdreckt."

Im Mai 1972 siegten schließlich die Saubermänner: Die Haare dürfen seitdem weder Uniform noch Hemdkragen berühren. Und: Ohren frei! Ein Schock, auf den viele Mattenträger erstmal trotzig reagierten:

"Man hat sich entschlossen, selbst bei jeder Strafe, die kommen wird, sich nicht die Haare abzuschneiden."

Doch die große Rebellion blieb aus. Das Verteidigungsministerium, das rund 740.000 Haarnetze angeschafft hatte, begründete die Kehrtwende mit medizinischen Gutachten.

"Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wohlrabe."

"Man hatte gelesen, dass Verlausung eingetreten sei. Vielleicht sind noch einige Nebenkosten entstanden. Könnte man dazu noch ein paar Zahlen hören?"

Im Juni '72 war der Erlass noch einmal Thema im Bundestag. Staatssekretär Karl Wilhelm Berkhan antwortete:

"Was mich besonders nachdenklich gemacht hat, war der erhöhte Krankheitsbefall durch nass gewordene Haare im Dienst, die dann zu erhöhten Erkältungserscheinungen führten."

Das Ende der militärischen Verlotterung: Bis heute ist nur Soldatinnen langes Haar gestattet - dagegen klagte zuletzt im Sommer 2005 ein Pferdeschwanzträger vor Gericht, sogar mit Erfolg. Doch ließ das Bundesverteidigungsministerium gleich darauf verlauten, es handele sich dabei nur um einen Einzelfall. Es gelte weiter: Haar ab!