Kurzroman

Gesellschaft am Abgrund

Kinder ahmen mit selbstgebastelten Waffen den Krieg der Erwachsenen nach, aufgenommen während des jugoslawischen Bürgerkriegs im kroatischen Borovo im November 1991.
Kinder ahmen während des jugoslawischen Bürgerkriegs mit selbstgebastelten Waffen den Krieg der Erwachsenen nach. © picture-alliance / dpa / afp
Von Martin Sander · 08.05.2014
Der Roman "Eines Tages" erzählt von der Kindheit, Jugend und frühen Erwachsenenzeit im zerfallenden Jugoslawien. Die kroatische Autorin Tatjana Gromača beschreibt präzise die zerstörerische Wirkung des Krieges auf die Gesellschaft.
Die Milch im Topf über dem Küchenofen blähte sich wie ein Fallschirm, und das Holzhaus mit Außentoilette über dem Fluss schien zwischen Himmel und Erde zu schweben, erinnert sich die Erzählerin an ihre Kindheit in einem kroatischen Dorf zur Spätzeit des sozialistischen Jugoslawien. Das Dorf ihrer Erinnerung geht in eine kleine Stadt über. Dort verrichten die Mutter als kleine Angestellte und der Vater als Fabrikarbeiter ihre öde Arbeit, während zuhause die katholische Großmutter das Regiment führt. Später reißen die Eltern das Holzhaus ab, ersetzen es durch einen gesichtslosen Steinbau – und irgendwann bricht in der Gegend der Krieg aus, dessen Frontlinien auch durch die Familie laufen. Denn die Mutter der Erzählerin ist keine katholische Kroatin, sondern eine Serbin.
Detailgenau, lakonisch und furios
Von Kindheit, Jugend und früher Erwachsenenzeit in einem zerfallenden Land erzählt die 1971 in Sisak südlich von Zagreb geborene Tatjana Gromača detailgenau, lakonisch und allemal furios. Unter dem Titel "Eines Tages" liegt die deutsche Übersetzung ihres 2004 in Zagreb veröffentlichten Romans bei der Wiener Edition Korrespondenzen vor.
Der Jugoslawien-Krieg habe ihr die schönsten Jahre ihres Lebens zerstört und ihr zugleich geholfen, schneller zu lernen, wer sie selbst sei, hat die Autorin einmal erklärt. In "Eines Tages" spiegelt sich dieser Prozess in 138, oft nur aus wenigen Sätzen bestehenden Kapiteln. Egal ob Sandkasten-, Doktor- oder Kriegsspiele, den kindlichen Beschäftigungen im Dorf haftet im Rückblick der Icherzählerin stets etwas Freudloses oder – beim Geldentwenden aus dem Opferstock - sogar Blamables an. Der Vater ist ein blasser Angepasster, der eilig alle Hürden seiner Durchschnittsexistenz nimmt, die Mutter eine energie- und hilflose Büromaus. Abwechslung ins Leben des Kindes bringen die Besuche bei den serbischen Großeltern in einer größeren Stadt, wo die Sonne hinter Wolkenkratzern verschwindet und man im Vergnügungspark Hackfleischfladen verzehrt.
Unüberwindbare Grenzen entstehen
Atmosphärische Kontraste weiten sich im Krieg zu unüberwindbaren Grenzen. Als die serbische Großmutter ins Krankenhaus muss, verbietet der Klinikdirektor den Angehörigen aus Kroatien jeden Besuch. In Kroatien wiederum heiratet die serbische Mutter hastig ihren Ehemann noch einmal, diesmal in der katholischen Kirche, um im neuen, von Franjo Tudjman gegründeten Nationalstaat nicht aufzufallen. Der inzwischen zum Studium in die Stadt gezogenen Tochter scheint das Leben zwischen Suff, Affären und kleinen Diebstählen immer mehr zu entgleiten. Am Ende fängt sie sich. Doch auch das Finale des Kurzromans stimmt keinesfalls hoffnungsfroh: Ein autoritärer kroatischer Schuldirektor wie aus dem Bilderbuch der Tudjman-Ideologie mit fetten Staatswappen an der Wand und am Siegelring macht die Erzählerin, die Lehrerin geworden ist und ihre Schüler zum selbständigen Denken anhalten will, nach Strich und Faden herunter.
Tatjana Gromača hat in Zagreb Literaturwissenschaft und Philosophie studiert. Seit 2000 arbeitet sie für verschiedene kroatische Zeitungen. Für ihre Gedichte und Prosatexte wurde sie vielfach ausgezeichnet. "Eines Tages" bietet Einblicke in die Abgründe einer Gesellschaft, mit den Mitteln eines bewundernswert präzisen, manchmal magischen Realismus.

Tatjana Gromača: Eines Tages
Roman
Aus dem Kroatischen von Fabian Hafner
Edition Korrespondenzen, Wien 2014
160 Seiten, 19,00 Euro