Kunstwerke, die für sich selber sprechen

Von Carsten Probst · 16.10.2012
Wie möchten wir leben? Woran orientieren wir uns? In einer Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin setzen sich 113 Künstler aus 28 europäischen Ländern mit diesen Fragen zum Thema Freiheit in der Zeit nach 1945 auseinander.
Der lichtlose Saal im Untergeschoss des Pei-Baus wirkt auf den ersten Blick wie eine große Bilderkammer. Wer unvorbereitet kommt, wird vermutlich verstört sein vom wirren Durcheinander von Werken einschlägig bekannter Künstlerinnen und Künstler aus dem Europa der Nachkriegszeit: Wie geht ein Jannis Kounellis in unmittelbarer Nachbarschaft eines René Magritte, was tut ein Francis Bacon direkt neben einem Roman Opalka, und mitten durch den Saal schneidet eine Installationswand von Christian Boltanski, um in Sichtweite einer der berühmten Iglu-Bauten von Mario Merz zu enden.

Hinweistafeln gibt es und ineinander übergehende Ausstellungskapitel ebenso wie Erklärungen zu jedem ausgewählten Werk - jedoch zurückhaltend. Die Bilder, so heißt es sollen für sich selber sprechen.

Monika Flacke: "Wir haben dann, die Aufklärung als Zeitalter der Vernunft bezeichnend, zwölf Räume entwickelt - und die Raumkonstellation beginnt mit dem ‚Gerichtshof der Vernunft’, mit einer großen Idee, nämlich der Vernunft und die Brechung der Vernunft. Sie finden Arbeiten von René Magritte, der noch an die Aufklärung und an die Demokratie glaubt, Ian Hamilton Finlay der das bricht, zusammen mit Mangelos und Jannis Kounellis, und Yinka Shonibare, der die ganz große Frage überhaupt stellt."

Sagt Hauptkuratorin Monika Flacke. Das Beispiel des ersten Raumes der Ausstellung deutet an, wie die Bilder im Zusammenhang gemeint sind - als jeweils unabhängige, zumeist höchst kritische Reaktionen von Künstlern auf das, was aus den großen Utopien der Aufklärung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geworden war. Man erinnert sich, Adorno/Horkheimer veröffentlichten 1947 ihre "Dialektik der Aufklärung", in der sie unter dem Eindruck des Holocaust und des Stalinismus die Ideen der Aufklärung für gescheitert, ja in ihr Gegenteil gewendet erklärten.

Wenige Jahre später, 1954, schrieb der junge Historiker Reinhart Koselleck seine Dissertation "Kritik und Krise", die bahnbrechend werden sollte für die Geschichtswissenschaft der jungen Bundesrepublik. Koselleck kam auf seine Weise zu einem ganz ähnlichen Resultat wie Adorno/Horkheimer, und seine Hauptthese bildet zugleich eine thematische Matrix dieser Ausstellung, wie Kunsthistoriker Horst Bredekamp erläutert:

"Koselleck rekonstruierte aus einer Kritik der Aufklärung, dass die permanente Kritik im 18. Jahrhundert eine Utopieerwartung erzeugt hätte, die niemals einzulösen ist - und aus diesem Grund bis heute vor zwei Alternativen gestellt ist: Entweder Staatsterror, um die Distanz zwischen Utopieerwartung und realen Verhältnissen zu überbrücken. Staatsterror oder im Grunde der Angriff auf das Gewissen: Der Versuch, den Bürger total einzubinden in Einklang mit den Werten der Aufklärung und der Demokratie."

War es in den der Aufklärung vorangegangenen Staaten des Absolutismus noch weitgehend gleichgültig gewesen, was man dachte, solange man nur den Gesetzen folgte, bewirkte die Aufklärung nach Kossellecks These, dass das individuelle Denken und moralische Gewissen jedes einzelnen Bürgers wichtig wurde für den Staat.

Sowohl den Demokratien wie auch den totalitären Staaten, die das Erbe der Aufklärung für sich beanspruchten, war das Gewissen des einzelnen Bürgers nicht mehr gleichgültig, beide versuchten, das Gesamtindividuum in den Griff zu bekommen und für ihre Staatsziele zu manipulieren. Und die Kunst spielte dabei stets eine entscheidende Rolle.

Bredekamp: "Die Kunst war ein Schmiermittel in den terroristischen Staaten, in Diktaturen, um dieses Geschäft in Anführungszeichen zu besorgen. In den Demokratien ist dieses weitaus subtiler geschehen, und das ist die revolutionäre Tat dieser Ausstellung: Diese Versuche, Gesamtpersönlichkeiten der Bürger zu ergreifen, ist immer wieder zutiefst durch die Kunst konterkariert worden, und sowohl in West wie Ost. Und diese Ausstellung, ich glaube es ist die erste ihrer Art, die vor dieser Fragestellung den Eisernen Vorhang als nicht existent definiert."

In der Tat gelingt dieser Ausstellung bei all ihrer Überladenheit ein bemerkenswerter kuratorischer Kniff. Die insgesamt 113 Positionen aus 28 europäischen Ländern illustrieren hier keine linearen, positivistischen Geschichtsdaten, sondern sie bilden eine vielstimmige Wahrnehmung des zweischneidigen Phänomens der sogenannten "Freiheit", wie sie von den Menschenrechten definiert wird. Und hier fügt sich die Vielheit der Bilder plötzlich kaleidoskopartig zueinander, mit immer wechselnden Aspekten, wenn gleich keineswegs vollständig.

Service:
Sie können die Ausstellung "Verführung Freiheit - Kunst in Europa seit 1945" bis zum 10. Februar 2013 im Deutschen Historischen Museum Berlin sehen.