Kunst zum Aufessen

Von Victoria Eglau |
In den 60er- und 70er-Jahren verließ die Kunst die Museen und gewann die Straße für sich - sie wurde zum Happening. Zu den "Performance"-Pionierinnen gehört die argentinische Künstlerin Marta Minujín. Ihre Arbeiten sind ab Samstag in der Ausstellung "performancekunst der 1960er und 70er jahre heute" in der Berliner Akademie der Künste zu sehen.
Es ist ausnahmsweise keine Demonstration, die an diesem Nachmittag in Buenos Aires stattfindet, sondern eins von Marta Minujíns Happenings. Die Künstlerin hatte angekündigt, sie wolle die Straße parfümieren. Jetzt läuft Marta vor der Ausstellungshalle hin und her, umgeben von jungen Leuten, die mit ihren weißen Schutzanzügen und Kanistern auf dem Rücken aussehen, als würden sie Gift verspritzen. Tatsächlich handelt es sich um ein Markenparfum.

"Operation Parfum, schließ’ die Augen", rufen Marta Minujín und ihre kleine Prozession, zu der auch Klarinetten- und Oboenspieler gehören. Dann skandieren sie: "Kunst, Kunst, Kunst - lebe die Kunst."

"Hallo, ich bin Marta Minujín, Künstlerin seit meiner Geburt. Habe die Kunstakademie abgebrochen, bin um die ganze Welt gereist und habe immer von der Kunst gelebt."

Die 67-Jährige, die mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein im Hof ihres Ateliers die Besucher empfängt, trägt einen weißen Overall mit grell pinkfarbenen Pinseltupfen, ebenso verzierte Schuhe und eine extravagante Sonnenbrille, in der gleichermaßen die Farbe Pink dominiert. Ihre Frisur ist schon seit Jahrzehnten dieselbe: ein platinblonder Pagenkopf.

Marta zeigt das Sammelsurium ihrer Kunst: eine Marta Minujín aus Gips mit Spielzeug beklebt. Fragmentierte griechische Statuen. Ein aufgeschnittenes, mit bunten Glassteinchen beklebtes Auto. Installationen mit Matratzen. Und Fotos von Aktionen, die Marta Minujín als "vergängliche Kunst" bezeichnet.

"Vergängliche Kunst heißt: Ich schaffe ein Kunstwerk und es verschwindet. Die Leute lassen es verschwinden. Ich habe einen dreißig Meter hohen Obelisken aus süßem Hefebrot gemacht, und die Leute haben ihn aufgegessen. Ich mache Kunst mit Massenbeteiligung. Ich bereite das Kunstwerk vor, und das Publikum beendet es."

Marta Minujín hat kein Problem damit, Kunst mit und für ein Massenpublikum zu machen. Sie stört sich auch nicht an der Nähe von Kunst und Konsum, wenn sie etwa bei einem Happening mit einer Parfum-Marke zusammenarbeitet. Und sie hat immer wieder Kunst zum Aufessen gemacht: den Obelisken aus Brot, die Venus aus Käse, die Freiheitsstatue aus Erdbeeren und die Berliner Mauer aus Würstchen.

1965 warf Marta in Uruguay zweihundert lebende Hühner aus einem Hubschrauber - ein Skandal. Danach habe sie zwanzig Jahre lang nicht mehr in das kleine Nachbarland Argentiniens reisen können, erzählt sie. Damals hatte die Südamerikanerin bereits wilde Jahre in Paris hinter sich.

"Ich war eine rebellische Künstlerin, hatte in Buenos Aires alle meine Bilder verbrannt und in Paris angefangen, mit Matratzen und Kartons zu arbeiten, die ich auf der Straße fand. Damals, in den Sechzigern, gab es weltweit eine Explosion von Künstlern, die Happenings machten. Ich war eine der Pionierinnen, denn schon 1963 zerstörte ich in Paris meine Kunst und dieser Akt der Zerstörung war auch wieder ein Kunst-Event. "

Marta Minujín macht ihre Werke nicht systematisch kaputt. Was ihr gefalle, rühre sie nicht an. Ihre erste Installation, eine der ersten Installationen überhaupt, wie die Künstlerin betont, war "Chambre d’Amour", "das Liebeszimmer". In Tokio zerstört, nachdem es dort 1963 gezeigt worden war, hat Minujín das Werk aus siebzig bunten Matratzen vor kurzem in einer Pariser Galerie neu aufgebaut. Die Schlafunterlage gehört nach wie vor zu den Lieblingsmaterialien der Künstlerin.

"Die Hälfte ihres Lebens verbringen die Leute auf Matratzen: wenn sie geboren werden und wenn sie sterben, wenn sie schlafen, sich lieben oder nachdenken. Matratzen sind wie ein Stück Leben. Wenn ich damit arbeite, ist es, als würde ich mit dem Leben arbeiten."

Während Marta Minujín spricht, dreht sie sich zum Spiegel um und schminkt sich die Lippen nach - knallpink natürlich. Dann zeigt sie auf ein Foto an der Wand von einer Kunstaktion aus dem Jahr 1985 mit Andy Warhol.

Die amerikanische Popart-Legende und die argentinische Popart-Diva sitzen auf zwei Stühlen, einander zugewandt, auf einem Berg aus Maiskolben. Mais symbolisiere das Argentinien, das einmal die Welt ernährte, sagt Minujín, und mit Mais habe sie dem US-Künstler Warhol symbolisch die Auslandsschulden ihres Landes bezahlt. Das will sie nicht als politische Kunst, sondern als Konzeptkunst verstanden wissen.

Trotz aller Aktionen, Performances und Happenings - Marta Minujín ist auch eine Künstlerin geblieben, die mit den Händen arbeitet. Zum Beispiel, wenn sie - wie zur Zeit - bunte Glasfenster gestaltet, mit transparenten Mosaikbildern, die an Graffitti erinnern.

"Wenn ich nicht auch mit meinen Händen arbeiten würde, wüsste ich nicht, wohin mit mir. Ich mache Konzeptkunst in Vancouver oder Paris per Internet, und hier in meinem Atelier arbeite ich Tag für Tag mit den Händen, wie Van Gogh."

Marta Minujín ist ohne Zweifel ein Gesamtkunstwerk. Und sie beherrscht die Kunst der Selbstvermarktung. Im Zuge der Straßenparfümierungsaktion brachte sie vor kurzem zweihundert Gipsflaschen auf den Markt, mit einem Marta-Minujín-Kopf statt Korken.

Wer sich traute, die Flasche zu zerbrechen, fand darin ein kleines Kunstobjekt und ein Parfum-Flacon. International wird die Argentinierin in diesem Jahr wiederentdeckt, so wie die Kunst der Sechziger. Das Happening stirbt nicht, sagt Marta Minujín.