Kulturverein "Lauter leise" in Sachsen

Mit Kultur verbinden statt spalten

Ungarische Grenze
Fotomontage: Ein Flüchtling steht am 16.09.2015 am Grenzzaun zwischen Serbien und Ungarn und ein österreichischer Grenzbeamter öffnet im August 1989 ein Grenztor an der ungarisch-österreichischen Grenze. © picture alliance/dpa/Foto: Gregor Fischer/Votava
von Karoline Knappe · 26.04.2017
Eine Ausstellung in Leipzig: Die Fotos zeigen zum einen Fluchtszenen von heute - und zum anderen flüchtende DDR-Bürger. Der sächsische Verein "Lauter leise" hat die Bilder zusammengestellt und will damit zeigen, wie ähnlich sich die Situationen sind.
Mitten in Leipzig, auf dem zentralen Augustusplatz zwischen Gewandhaus und Oper, zwischen Straßenbahnen, vorbeifahrenden Autos, schlagenden Turmuhren und dem Tatütata von Notarzt und Feuerwehr steht ein knallblauer Container, auf dessen Dach ein gut sichtbares Banner angebracht ist. "Begrüßungsgeld" steht darauf.
An der Front des Containers ist eine Art Schalter angebracht. "Auszahlung" steht darüber. Heute geschlossen, heißt es auf dem Schild vor den grauen Lamellen. Davor machen der syrische Oud-Spieler Basel Alkatrieb und der deutsche Perkussionist Peter Bauer Musik, eröffnen damit die Ausstellung, die sich im Innern des Containers befindet.
"Der Weg, den wir eben gehen wollen, ist nicht der der Politik, sondern eben der, dass wir auf die Menschen schauen, auf das Persönliche, und da sind wir dann auch schon bei unserem Container, bei dem ersten Projekt, was der Lauter leise e.V. gemacht hat, auf die Beine gestellt hat, zusammen mit Hans Ferenz, der den Container gebaut und konzipiert hat..."
... erzählt Lars Krüger bei der Eröffnung des Containers. Er gehört zusammen mit Anna Kaleri und Tina Pruschmann zum Lauter leise e.V., einem Verein, der sich zum Ziel gesetzt hat, verschiedenste Menschen zusammen zu bringen, die sich mit ihren künstlerischen Projekten für Demokratie und gegen Rassismus einsetzen.
Einer von ihnen ist Hans Ferenz. Er nennt seinen Begrüßungsgeld-Container ein Wutprojekt. In Thüringen hat Hans Ferenz erlebt, wie die Politik auf Demonstrationen der Rechten nicht zu reagieren wusste und die Gegendemonstranten den Rechten und ihren wechselnden Routen und Demonstrationsorten immer hinterherrannten, erzählt er bei der Ausstellungseröffnung:
"Und ich hab gedacht, ich hab keine Lust mehr, hinter Euch herzulaufen. Ich hab auch was zu sagen. Und das, was ich da eben sagen wollte, ist hier in dem Container drin und ich hab gedacht, ich stell es Euch mitten in den Weg, mitten auf den Platz, kommt und redet."

Kulturtour von Saalfeld bis Leipzig

Und sie sind gekommen. Der Container stand zuerst in Saalfeld, dann in Erfurt. Und nun in Leipzig. Er ist zu beiden Seiten offen. Drinnen hängen an jeder Wand sechs Fotos. Fotos, die Fluchtsituationen zeigen – Menschen, die durch Grenzzäune brechen, die in Auffanglagern leben, die ankommen. Auf der einen Seite: Bilder von Fluchten aus der DDR. Auf der anderen Seite, fast spiegelbildlich, Fluchtbilder von Menschen aus Syrien.
Da ist zum Beispiel auf der einen Seite der Grenzzaun zwischen der ehemaligen DDR und der BRD, irgendwo zwischen Thüringen und Hessen. Das Foto gegenüber zeigt den Grenzzaun, den Ungarn 2015 angefangen hat zu errichten. Sie unterscheiden sich kaum.
"Dieses Gehen über Grenzen und diese Gefahr, getötet zu werden, das Durchbrechen von Zäunen, das Leben in Zeltlagern und das irgendwie Ankommen in Europa oder in der BRD und die Aufnahme in den Flüchtlingslagern, das ist, wenn man in die Gesichter guckt, da sieht man, wie ähnlich die sich sind."
Und tatsächlich: Der DDR-Grenzer, der den ersten Grenztoten, Peter Fechter, wegträgt, tut das mit derselben Haltung, mit demselben Ausdruck wie jener Grenzpolizist, der den kleinen Aylan Kurdi an der türkischen Küste birgt.
Natürlich ist Hans Ferenz klar, dass sich die Hintergründe einer Flucht aus Syrien mit denen einer Flucht aus der DDR nicht einfach gleichsetzen lassen. Aber um diese Form der Gleichsetzung geht es ihm auch gar nicht.
"Wenn man in der DDR war und nen Freiheitswunsch hatte, dann konnte man aber trotzdem, wenn man's irgendwie noch ausgehalten hat, in der DDR leben. Erst wenn man sich entschieden hat, den Weg über die Grenze zu gehen, lief man Gefahr, von hinten erschossen zu werden. Auf der anderen Seite, die Flüchtlinge, die heute kommen, die laufen Gefahr, erschossen zu werden, wenn sie bleiben."

Bewusste Provokation

Es ist eine bewusste Provokation. Besucher sollen zum Nachdenken und Reden gebracht werden. Während der Öffnungszeiten sind immer zwei Betreuer da, um die Leute aufzufangen. Anna Kaleri zum Beispiel, die Gründerin von Lauter leise e.V., die selbst als Autorin in Leipzig lebt.
Anna Kaleri: "Dass Fremde miteinander ins Gespräch kommen, sich nicht anschreien, sondern sich austauschen zu Erfahrungen und auch gucken, wenn jemand zu unterschiedlichen Positionen gelangt ist, wie man selbst, woher das auch rührt."
Hans Ferenz: "Und dann kommen die Leute in den Container und orientieren sich an ihrer eigenen Geschichte und stehen auch wirklich mit dem Rücken zu dieser DDR-Seite und schauen auf die aktuellen Bilder und das gibt ihnen so ne Art Halt. Und man merkt dann, wie sie anders schauen."
Die Reaktionen in dieser einen Woche, in der der Container auf dem Leipziger Augustusplatz steht, sind vielfältig. Da sind Besucher, die den Container sofort wieder verlassen. Die nicht reden wollen oder können. Die anfangen zu weinen. Oder die selbst provozieren. Wie eine Gruppe von Busfahrern, die einmal in ihrer Mittagspause in den Container kamen, erzählt Hans Ferenz.
"Einer von ihnen, der wollte sich wohl ein bisschen groß machen vor seinen Kollegen und erzählte dann ganz trocken: 'Ich war früher auch bei der Grenze. Ich hab auch geschossen. Ich hab auch getroffen. Wär schön, wenn wir heut wieder schießen könnten'. Und da ist mir das erste Mal nach vielen, vielen Gesprächen nichts mehr eingefallen. Und dann stand daneben ein älterer Herr, bestimmt Ende 70, mit einer ganz ruhigen, aber sehr durchdringenden Stimme, der meinte: 'Na, dann gehen Se doch nach Afghanistan. Aber da müssen Se aufpassen. Da wird zurück geschossen'."

"Literatur statt Brandsätze"

Szenenwechsel.
Neben dem Container ist das Kernstück des Lauter leise e.V. auch weiterhin das Projekt "Literatur statt Brandsätze". Als damals im Februar 2016 in Clausnitz ein Bus mit Geflüchteten angegriffen wird, ist Anna Kaleri tief erschüttert.
"Nach dieser Nacht konnt ich dann selbst nicht schlafen und hab über soziale Medien nen kleinen Rundruf gestartet an meine Autorenkollegen und dann is eigentlich von mir die Idee gekommen, dass wir mit dem, was uns als Autoren auch zu eigen is, nämlich Lesungen zu machen, dass wir damit in ganz Sachsen präsent sein wollen, dass wir ehrenamtlich Lesungen anbieten wollen an Orten, wo sonst Kultur weniger hinkommt."
In den folgenden Wochen und Monaten organisiert sie insgesamt 30 Lesungen mit rund 60 Autoren, die ehrenamtlich aus ihren Büchern lesen. Vor allem in kleineren Ortschaften wie Wurzen, Gröditz oder Kamenz.
"Wir können als Kulturschaffende nur überlegen, wo wir ansetzen können. Das heißt, wir sagen uns, es gibt Orte, die tendenziell ein bisschen abgehängt sind und deswegen fahren wir dahin. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass ich glaube, dass Kultur per se für Aufklärung steht. Denn die fremdenfeindlichen Einstellungen, das zeigt ja zum Beispiel die Mitte-Studie, gehen ja durchaus auch von der Mitte der Gesellschaft aus, auch von Menschen, die ein großes Kulturangebot haben, auch von Menschen, die das Gewandhaus und die Oper regelmäßig besuchen. Das ist eigentlich erschreckend."

"Ankommen in Deutschland" auf dem Lesefest Leipzig

Und so bietet der Verein auch in Leipzig im Rahmen des Lesefestes rund um die Buchmesse unter der Überschrift "Ankommen in Deutschland" eine Veranstaltung an. Der Saal in der Marktpassage mit Blick auf das Alte Rathaus ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Mehrere Schulklassen von Gymnasien aus Leipzig und der näheren Umgebung sind gekommen, um vier Autoren aus vier unterschiedlichen Generationen kennen zu lernen, die von ihren jeweiligen Fluchterfahrungen erzählen, aus ihren Büchern oder Gedichten vorlesen und zu Diskussionen bereitstehen.
Reinhard Bernhof ist der älteste von ihnen. Er war fünf Jahre alt, als die Wehrmacht ihn und seine Familie aus Schlesien evakuierte. Über diverse Umwege gelang er mit seiner Mutter schließlich nach Riesa. Dort wurden die verwanzten und verlausten Flüchtlinge von den Russen erst einmal zur kollektiven Entlausung ins Stadtbad bestellt.
Reinhard Bernhof, Lesung: "Unter den Duschen befanden sich etliche Leute. Und eine Russin in einem offenen Kittel, die sich Herzlippen angemalt hatte, warf auf die nackten Körper eine Handvoll Schmierseife. Während ich unter den Wasserstrahlen die warmen Güsse genoss, die Sprudel und Spritzer, beobachtete ich die vielen splitternackten Körper, die sich alle im dichten, heißen Dampf bewegten."
Der jüngste Autor mit Fluchterfahrungen, der an diesem Vormittag seine Gedichte vorstellt, ist Abdulsalam Tarshahani. Er ist im vergangenen Jahr aus Syrien geflohen.
Abdulsalam Tarshahani, Lesung: "Ich bin ein Mensch. Ihr werdet mich nicht einsperren, indem Ihr meine Gedanken wegsperrt. Ihr werdet mich, noch meine Identität nicht zerstörenund stolz werde ich verkünden: Ich bin ein Mensch."
Die Jugendlichen hören zu, trauen sich aber kaum, Fragen zu stellen.
"Traut Euch ruhig. Ich weiß, in so nem Gruppenkontext gibt’s auch ne Gruppendynamik, ja, aber wenn der Erste schon mal den Weg frei legt, und das war jetzt – traut Euch!"
Bernhof: "Eure Eltern sind natürlich alle begeistert von der Aufnahme der Flüchtlinge, oder? Mal ganz ehrlich."
Zu so viel Ehrlichkeit reicht es an diesem Vormittag nicht. Aber einer der Schüler fragt nach den Parallelen zwischen den Fluchterfahrungen. Der Historiker Andreas Kossert meint:
"Das ist das, was das Einigende ist, dass man tatsächlich merkt, wie ein Mensch, der auf der Flucht ist, ein Mensch der vertrieben wurde, ist auf einmal zwangsweise in eine neue Umgebung gestellt worden. Und das ist eine universale Erfahrung. Das ist keine Erfahrung von 1945 oder von 2015, sondern das haben wir überall."
Anna Kaleri setzt darauf, dass Veranstaltungen wie "Literatur statt Brandsätze" Anregungen bieten können – nicht nur für Jugendliche, sondern auch für Erwachsene. Um aber einen Rechtsruck in Sachsen und Deutschland auch längerfristig verhindern zu helfen, geht sie noch einen Schritt weiter und will schon bei den ganz kleinen Kindern anfangen.
"Ich glaube, dass das auch wichtig is, um Rassismus gar nicht erst entstehen zu lassen, dass besonders Kinder, schon wenn sie jung sind, Menschen aus anderen Ländern kennen lernen in konstruktiven und schönen Zusammenhängen."

Im Bürgerbüro eines Leipziger SPD-Abgeordneten

"Aufstehen – einfach den Raum benutzen, laufen, ja, genau – in alle Richtungen, ok, schneller... und Stop!"
Im Jedermanns, dem Bürgerbüro eines SPD-Abgeordneten im Leipziger Norden. Eine Handvoll Kindergarten- und Grundschulkinder tanzt zu afrikanischer Musik durch den Raum. Mittendrin: Ezé Wendtoin, ein junger Mann aus Burkina Faso mit dunkler Haut, krausen Haare, breiter Nase – und einem ebenso breitem Lachen. Er unternimmt heute mit den Kindern eine Reise in sein Land.
Wendtoin: "Wir sind gerade in Burkina Faso gelandet. Und da... haben verschiedene Instrumente, die wir entdecken werden. Womit wollt Ihr anfangen?"
Kind: "Mit dem."
Wendtoin: "Ah, ja, mit der Geige! In meiner Muttersprache heißt das ´Rudga`. Könnt Ihr das nachsprechen… Super! Und jetzt könnt Ihr selber das Instrument ausprobieren, wenn Ihr wollt! Wollt Ihr?"
Kinder: "Ja!"
Wendtoin: "Merkst Du was? Wer merkt was?"
Kind: "Mit den Fingern kann man die Töne verändern!"
Und schließlich machen alle gemeinsam Musik: Jedes Kind bekommt ein Instrument und bei "drei" geht es los: Mit Rudga, Rasseln und Trommeln.
Ezé Wendtoin erklärt, woraus die verschiedenen Instrumente gebaut werden, von den Festen, zu denen sie gespielt werden. Und auch von denen, zu denen sie nicht gespielt werden. Dass man in Burkina Faso zum Beispiel fast nie seinen Geburtstag feiert, fasziniert die Kinder ungemein.
Kind: "Also wusstest Du nicht, als Du noch klein warst, wie alt Du bist."
Wendtoin: "Ja, richtig, zum Beispiel. Das gehört nicht zur Kultur so. Und bei meinen Geschwistern ist es auch so, ich habe einen älteren Bruder und einen jüngeren, und die haben auch manchmal ihre Geburtstage vergessen. Und ja, das wird nicht gefeiert."
Kind: "Also Ihr musstet jetzt nicht in Freunde-Bücher einschreiben, wie alt Ihr seid."
Wendtoin: "Genau, ja, sehr, sehr selten."

Kind: "Also, weißt Du jetzt, wie alt Du bist?"
Wendtoin: "Jetzt, ich überlege kurz, ja, jetzt weiß ich."
Kind: "Wie alt?"
Wendtoin: "Ich bin 25 Jahre alt."
Und dann lernen die Kinder noch ein Lied von Ezé Wendtoin. Ein Lied in seiner Muttersprache: Moorí.
Wendtoin: "Das ist ein Lied, das wir gesungen haben, als wir klein waren, waren wir gelaufen zur Schule und so zusammen mit anderen Kindern unterwegs und manchmal ist der Schulweg ganz weit weg, aber trotzdem muss man dahin laufen. Und das Lied bedeutet: Wir sind noch nicht angekommen."
Ob Ezé Wendtoin Kindergartenkindern vom Leben in Burkina Faso erzählt, Autoren in kleineren und größeren Orten aus ihren Büchern lesen oder eine Tangotänzerin anderen das Tanzen beibringt: Anna Kaleri möchte mit ihrem Verein Lauter leise e.V. all solche Projekte bündeln und als eine Art Dachverband fungieren, der eine solche Verbindung von Kunst und Demokratiearbeit ermöglicht.
Und dazu soll es im Sommer gemeinsam auf Tour gehen:
Kaleri: "Da wollen wir eine Woche lang gebündelt mit einem Bus durch Sachsen fahren und diese Künstler an Bord haben, und dann öffnet sich der Bus und eine Band fängt an zu spielen, dann kann man Tango lernen, man kann Bücher gestalten, und es gibt ein Ein-Personen-Theaterstück und so wollen wir durch die Lande tingeln und besonders auch kleine Orte erreichen."
Zurzeit ist Anna Kaleri noch voll mit der Organisation dieser Tour beschäftigt. Aber die Erfahrungen des vergangenen Jahres machen ihr Mut. Denn als sie die Lesungen in den verschiedenen sächsischen Ortschaften veranstaltet hat, gab es viel mehr Anfragen, als die Initiative damals stemmen konnte. Der Bedarf ist also da.
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