Konzentrationslager Theresienstadt

Sie spielten ihre eigene Totenmesse

Blick durch Stacheldraht auf die Gebäude des 1941 von der SS errichteten Konzentrationslagers im tschechischen Theresienstadt.
Blick durch Stacheldraht auf die Gebäude des 1941 errichteten Konzentrationslagers im tschechischen Theresienstadt. © picture alliance / dpa
Von Blanka Weber · 06.09.2017
Chormitglieder wurden angeworben, sie studierten den Text ein, sie probten, sie führten die Totenmesse auf – und anschließend wurden sie umgebracht. Es ist eine der am wenigsten bekannten Geschichten über das Konzentrationslager Theresienstadt. Und eine der bittersten.
1868 lud Guiseppe Verdi seine besten Komponistenkollegen ein, um eine Messa per Rossini zu komponieren. An dessen ersten Todestag sollte sie uraufgeführt werden. Verdi übernahm den Schlusssatz.
Zur geplanten Aufführung ist es nie gekommen, der Stoff geriet fast in Vergessenheit. Und Verdi selbst nahm erst Jahre später das Skript erneut zur Hand.
Anlass war der Tod des Dichters Alessandro Manzoni. Im Auftrag der Stadt Mailand sollte er eine Totenmesse schreiben – und schuf jenes Requiem, das 1874 uraufgeführt wurde und ein Jahr später auch in Paris, London, Wien und Köln zu hören war. Niemand konnte ahnen, welche Rolle dieses Requiem in der tiefsten Finsternis des 20. Jahrhunderts spielen sollte.
"Ich war tief beeindruckt, als ich erfahren habe, ich habe es früher nicht gewusst, über diese Verbindung zu Verdi",
sagt Kiril Karabits, der Generalmusikdirektor der Staatskapelle Weimar. Im Dom zu Erfurt wird er am Samstag das Requiem dirigieren, um an die Geschichte in Theresienstadt zu erinnern.
Die Musikerinnen und Musiker der Staatskapelle Weimar
Eine Verneigung vor jenen Musikern, die in Theresienstadt die Totenmesse aufführten und danach ins Gas geschickt wurden: Die Staatskapelle Weimar führt Verdis Requiem auf.© Staatskapelle Weimar/Candy Welz
"Also das Stück wurde insgesamt, glaube ich, 16 Mal aufgeführt in Theresienstadt und jedes Mal mussten neue Sänger gefunden werden, der Chor wurde einfach ermordet nach jeder Vorstellung."

Ein Wartesaal auf dem Weg in die Gaskammern

Die polnische Germanistin und Musikwissenschaftlerin Maria Stolarzewicz hat erforscht, was in Theresienstadt geschah, als Verdis Requiem erklang, gespielt von jüdischen Musikern, die in das Konzentrationslager deportiert worden waren.
Sie erzählt aus drei Perspektiven: der Opfer, der Außenstehenden – und aus der Sicht der Täter:
"Ich möchte eigentlich zeigen, was Theresienstadt war und wie es dazu kommen konnte, dass in diesem Ghetto dieses Requiem mehrmals aufgeführt worden ist."
Ab 1941 war Theresienstadt ein Sammellager für die Juden aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, die später in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert werden sollten.
"Damals war das Lager noch nicht fertig. Aber nach der Wannseekonferenz, also nach dem 20. Januar 1942, nachdem die Endlösung der Judenfrage beschlossen worden war, wurde Theresienstadt zu einem Durchgangslager für die Juden aus ganz Europa."
Im Grunde war es ein Wartesaal auf dem Weg in die Gaskammern der Vernichtungslager.
"Das muss man sagen, in Folge der 63 Deportationen aus Theresienstadt starben 88.000 Menschen, ungefähr."
Das Lager Theresienstadt war im Frühjahr und Sommer 1942 extrem überfüllt. Es war eigentlich nur für 16.000 Menschen vorgesehen. Tatsächlich waren im September mehr als 58.000 Menschen dort eingesperrt.
"Die hygienischen Bedingungen waren sehr schlecht, das Wasser fehlte. Sanitäre Ausrichtung war nicht ausreichend. Krankheiten grassierten. Medikamente fehlten."
Durch Arbeit, Folter und Misshandlungen kam es zu einer hohen Sterblichkeit.

Kultur als Vorzeigekulisse für Propaganda

Trotzdem war das Lager auch ein Ort der Kunst, so die polnische Wissenschaftlerin, die am Lehrstuhl für Jüdische Musikgeschichte der Weimarer Musikhochschule forschte:
"Im Ghetto befanden sich viele herausragende Künstler, Intellektuelle, Politiker. Sie haben das kulturelle Leben in Theresienstadt organisiert."
Bis zur Wannseekonferenz war jegliche Aktivität im Lager verboten. Danach wurde scheinbar das Lagerleben leichter: Die Nationalsozialisten unterstützten künstlerische Arbeit im Ghetto – unter der zynischen Bezeichnung "Freizeitgestaltung".
"Dazu gehörten Musik- und Theaterveranstaltungen, Vorträge, Kabarett, Sport, bunte Abende mit Rezitationen und Liedern, Ziehharmonika-Musik, Kammermusik, Opernaufführungen und Orchesterkonzerte."
Vor allem bei internationalen Besuchen und Kontrollen, etwa durch das Rote Kreuz, sollte der Eindruck entstehen: So schlecht geht es den Menschen hier nicht. Kultur als Vorzeigekulisse für die Propaganda.

Musizieren verlieh nahrhafte Kraft

Für die Menschen im Lager war Musik ein Strohhalm der Hoffnung, wie aus einem Zeitzeugenbericht hervorgeht, aus dem die Musikwissenschaftlerin Maria Stolarzewicz vorliest:
"Hier ist eine Erzählung von Marianka Sardikowny. Ich zitiere: Wir hörten Verdis Musik mit einem solchen Verlangen, als ob wir vorher nie Musik gehört hätten. Wir haben nicht nur gesungen, wir haben die verborgene Bedeutung der Musik zum Ausdruck gebracht, uns verlieh das Musizieren eine nahrhafte Kraft."
Es gibt viele Berichte über Musik und Musiker aus Theresienstadt. Zu den am wenigsten bekannten gehört die makabre Inszenierung von Verdis Totenmesse. Chormitglieder wurden geworben. Sie studierten den Text ein, sie probten, sie führten die Totenmesse auf – und wurden dann abtransportiert. Fast alle.

Im Gedenken an ermordete Musiker

Im Gedenken an diese Musikerinnen und Musiker wird die Messe am Samstag im Rahmen der Achava-Festpiele im Erfurter Dom aufgeführt. Martin Kranz, Intendant des Festivals:
"Wir haben gesagt, wir wollen das Verdi-Requiem im Dom zu Erfurt zur Aufführung bringen, die größte katholische Totenmesse, die wir kennen, unter der Überschrift ‚In memoria di Theresienstadt’."
Der damalige Dirigent Rafael Schächter stammte aus Rumänien, in Brünn und Prag hatte er studiert. Maria Stolarzewicz erklärt:
"Nach Theresienstadt ist er mit einem der ersten Transporte gekommen und von Anfang an machte er mit anderen Gefangenen Musik."
Zunächst tschechische Lieder. Er führte Smetanas "verkaufte Braut" auf, sogar Mozarts "Zauberflöte" und eben Verdis Totenmesse.
"Der Dirigent Rafael Schächter hat auch unter den Häftlingen werben müssen, das zu tun. Wir vermuten, dass die Einflussnahme Adolf Eichmanns direkt war, dass es aufgeführt werden konnte. Und das ist das Perfide: diejenigen, die es aufgeführt haben, die Häftlinge, wurden dann direkt im Anschluss an die Aufführung ins Gas geschickt",
sagt Festivalintendant Kranz.
Zum letzten Mal wurde das Requiem im Juni 1944 aufgeführt, als sich das Rote Kreuz ein Bild von der Situation in Theresienstadt machte. Der junge Schweizer Mediziner Maurice Russell war dabei und hielt später im Protokoll fest, man habe nichts Beunruhigendes im Lager gefunden. Dazu Maria Stolarzewicz:
"Schächter musste das Requiem zum 16. Mal aufführen. Danach wurden alle Chormitglieder, Solisten und der Dirigent nach Auschwitz deportiert."

Am 8. September überträgt Deutschlandfunk Kultur Verdis "Messa Da Requiem" der Staatskapelle Weimar aus dem Erfurter Dom. Das Festival Achava in Thüringen hat sich dem Dialog zwischen dem Judentum, dem Christentum und anderen Religionen verschrieben. Mit Musik, Gesprächskonzerten und einer Ausstellung stehen elf Tage interreligiöse und interkulturelle Themen auf dem Programm.

Mehr zum Thema