Kleiner Leitfaden zur Fußball-Weltmeisterschaft

Die wichtigsten Typen der WM-Feierkultur

Fußballfans schwenken während der Fußball-WM in Deutschland 2006 schwarz-rot-goldene Fahnen.
Fußballfans während der Fußball-WM in Deutschland 2006 © dpa / KAY NIETFELD
Von Reinhard Mohr · 11.06.2018
In wenigen Tagen beginnt die Fußball-WM in Russland - und während die einen inbrünstig schwarz-rot-goldene Fahnen schwenken, warnen die anderen vor dem allzu nationalen Fußballtaumel. Journalist Reinhard Mohr hat die WM-Fankultur analysiert.
Für Millionen Deutsche, so orakelte die taz, sei es "bald wieder soweit, dem Höhepunkt ihres sonst so trostlosen Daseins, dem zyklisch wiederkehrenden nationalen Taumel in schwarz-rot-goldner Einfalt, gebührend entgegenfiebern zu können".
Na klar, eine Fußballweltmeisterschaft ohne deutsche Grundsatzdebatte über Patriotismus, Nationalismus und die Rechtmäßigkeit des Fahnenschwenkens ist einfach nicht denkbar. Das sind wir uns schuldig, denn die Frage, was uns im Innersten zusammenhält, was erlaubt und was verboten ist, gehört immer schon zum Kernbestand des deutschen Wesens – von ganz links bis ganz rechts.

Die allzu typischen Typen den WM-Fankultur

Wer gedacht hatte, das unbeschwerte "Sommermärchen" von 2006 habe all die bleischweren Fragen in heiße Luft aufgelöst, sieht sich getäuscht – nicht nur wegen Özil und Gündogan, die nicht wissen, wer ihr Präsident ist. Um dennoch den Überblick zu behalten, hier eine kurze Skizze der wichtigsten Phänotypen der deutschen WM-Feierkultur.
Da ist zunächst der Event-Typus, das Feierbiest, das die Party sucht, das exzessive Gemeinschaftserlebnis. Vielen bleibt die Abseitsregel so unverständlich wie Einsteins Relativitätstheorie – doch das Partykollektiv kennt sowieso nur ein Motto: Heut' flieg'n die Löcher aus dem Käse!
Linke Autonome sehen das mit Wut, Hass und Abscheu – ein reaktionäres Spektakel widerlicher Nazi-Enkel. "Nie wieder Deutschland!" heißt hier die Parole, und wenn der türkische Gemüsehändler die deutsche Flagge hisst, ist er ein erbärmlicher Faschist, dem der Lieferwagen abgefackelt wird. So geht Revolution.
AfD-Anhänger dagegen drapieren ihr Auto mit vier Deutschland-Fähnchen, dazu die beiden Außenspiegel-Präservative in Schwarz-Rot-Gold. Vereinzelt wird auch der ergraute Führer-Schnauzer national eingefärbt, und auf mitgebrachten Plakaten baumeln neuerdings neben Angela Merkel auch noch Özil und Gündogan direkt im deutschen Tor.

Das wird man ja wohl noch jubeln dürfen!

Der linksliberale "Zeit"-Abonnent mit nachhaltigem Zweitwohnsitz in der Uckermark geht es ruhig an. Er liebt den Fußball, findet aber nicht, dass Deutschland immer gewinnen muss. Ästhetisch ist der französische Fußball sowieso überlegen. Allein dieser Griezmann. Oder Pogba. Oder Mbappé. Wenn dann aber Thomas Müller das Ding dem wieselflinken mexikanischen Torwart doch wieder durch die Beine schiebt, wird der Cremant de Loire aufgemacht. Das wird man ja noch dürfen, trotz der deutschen Geschichte.
In diesem Moment hat der echte Fußballfan schon längst sein drittes oder viertes Hasseröder, Becks oder Warsteiner intus. Er hat zwar bis gestern noch geschworen, sich dem kaputten Fußball-Kommerz diesmal wirklich nicht mehr an die Brust zu werfen. Aber dann ist die WM für ihn eben doch Weihnachten, Ostern, Pfingsten und Mallorca-Urlaub zusammen. Die Patriotismus-Debatte dagegen geht an ihm vorbei wie ein Windzug in der S-Bahn, und so stellt sich ihm die Frage nach erlaubtem Fahnenschmuck und Mitsingen der Nationalhymne nicht im Geringsten: Soll er etwa die Flagge von Saudi-Arabien, Ägypten oder Nigeria schwenken, wo korrupte und gewalttätige Regimes herrschen? Eben.

Tapfer gegen den "nationalen Taumel"

Völlig ratlos stehen jene Menschen vor all dem, die sich eher für Politik als für Fußball interessieren. Sie fragen sich, warum man eine WM ausgerechnet ins Reich des russischen Despoten und Kriegstreibers Putin – Stichworte: Krim, Syrien, Ost-Ukraine – verlegt. Politisch verantwortet er nicht zuletzt ein riesiges Dopingsystem und zahllose Morde an Journalisten.
Und was ist nun mit dem "nationalen Taumel", in den wir ab dem kommenden Wochenende stürzen? Die taz hat jedenfalls schon angekündigt, tapfer dagegen anzukämpfen: mit fünf täglichen Sonderseiten, Liveticker, Podcast und Public Viewing im taz-Café. Mehr geht nun wirklich nicht.

Reinhard Mohr, geboren 1955, ist Journalist und Autor. Er schrieb für "Spiegel Online" und war langjähriger Kulturredakteur des "Spiegel". Weitere journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Buchveröffentlichungen u. a.: "Bin ich jetzt reaktionär? Bekenntnisse eines Altlinken", "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z", "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern" und "Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers".

© dpa / picture alliance / Karlheinz Schindler
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