Kleiner Garten Demokratie

Von Ulrike Greim · 20.08.2009
Alle Thüringer Parteien rufen die Wählerinnen und Wähler auf, am 30. August von ihrem demokratischen Recht Gebrauch zu machen, die neue Zusammensetzung des Thüringer Landtages und die Farbe der Regierung zu bestimmen. Doch wie halten es die Parteien selbst mit der Demokratie?
Der Herbst 1989 in Thüringen. Hier: eine Demo in Erfurt. Es waren einige wenige Mutige, die voran gingen. Viele Tausend folgten ihnen.

Es war die Zeit, in der Demokratie ein kraftvoller Begriff war, voller Leidenschaft und Poesie. Überhaupt nicht nüchtern, nicht technokratisch und zäh.

Meinungsfreiheit war ein unverschämt provokantes Gut. Pressefreiheit skandalös und revolutionär. Versammlungsfreiheit ein Recht, das sich die Bürger auf höchst brisante Weise einfach genommen haben.

"Uns allen ist gemeinsam der Wunsch nach spürbaren Veränderungen in unserem Land, in unserer Stadt."

Jede einzelne Forderung, auf Demos, hier auf dem Erfurter Domplatz ausgesprochen, war so aufregend, dass man rote Wangen bekommen konnte. Jede neu gegründete Vereinigung ein unkalkulierbares Risiko für Leib und Leben.

"Wir fordern das Recht auf freie und geheime Wahlen. Wir wollen uns zur Wahlen stellen und das Machtmonopol der SED brechen." "Freie Wahlen! Freie Wahlen!"

Jede Kritik an Regierenden, wie hier der SED-Bezirkleitung, war halsbrecherisch und ungemein hoffnungsvoll.
"Abtreten, abtreten."

Vorn dran an den Bewegungen standen ganz unterschiedliche revolutionäre Männer und Frauen. Liederdichtende Hausfrauen, querdenkende Künstler, gestandene Ingenieure, aufstrebende Studenten. Viele sind gleich danach wieder in die Oppositionsrolle gestiegen, leben heute in gesundem Respekt zu den Regierenden. Andere regieren. Mike Mohring zum Beispiel, der jetzige Fraktionschef der regierungstragenden CDU, damals mit 18 blutjung und höchst engagiert im Neuen Forum. Klaus Zeh, damals im Demokratischen Aufbruch, heute Staatskanzleichef, oder – in dem Fall opponierend – Christoph Matschie, jetzt SPD-Fraktions- und Landeschef.

Matschie: "Ich hab die organisiert, die ersten Demos in Jena, mit anderen zusammen. Im Herbst 89. Und ich kann mich noch sehr gut an die Begeisterung erinnern, mit der Menschen auf die Straße gegangen sind, an die enorme Erwartung an Demokratie, an Freiheit, freie Wahlen. Ein ungeheurer Aufbruch."

Ein Aufbruch in eine neue Gesellschaftsform hinein, der erst einmal gestaltet sein wollte. Doch wie gestaltet man Chaos? Wir strukturiert man eine heftig emotionale Bewegung? Wer übernimmt Verantwortung, und warum? Wer hilft, und wozu? Und was tut die Gesellschaft?

Denn genau genommen sind die mehreren Zehntausend Demonstranten natürlich nicht alle Thüringer gewesen, nicht einmal die Mehrheit. Die meisten blieben zuhause und verfolgten das Geschehen am Fernseher und hinter der Gardine. Demokratie lebte also auch schon damals sehr vom Engagement Einzelner. Und alle profitierten.
Karl Schmitt verfolgte die Entwicklung erst als Privatperson, später als Politikwissenschaftler an der Uni Jena.

"Eine der positiven Seiten dieses Impulses damals ist gewesen, dass doch eine ganze Reihe von Leuten in Politik gegangen sind auf eine selbst bestimmte Art und Weise. Es sind ja damals neue Parteien gegründet worden, Konzeptionen entwickelt worden, wie Gesellschaft aussehen soll, wie politische Ziele sind. Es ist ein System installiert worden, wie man das in praktische Politik umsetzen kann."

Das Tor zum Garten der Demokratie war also aufgestoßen, er wurde bevölkert, belagert, vereinzelt geplündert, überwiegend bestaunt. Erste zaghafte Pflänzchen, wie zum Beispiel das Neue Forum, der Demokratische Aufbruch, die Sozialdemokratische Partei SDP, das Bündnis 90 und etliche andere, suchten Mitstreiter, Programme, Organisationsformen. Einige der Pflänzchen gingen nach einiger Zeit wieder ein, andere wurden eingekreuzt mit größeren. Die Parteien, die in der Alt-Bundesrepublik etabliert waren, hatten organisatorisch und inhaltlich den stärksten Hintergrund und wuchsen schnell. Sie wurden starke Bäume. Wenngleich unterschiedlich stark.

Schmitt: "Die Neuparteien hatten und haben das Problem bis heute, dass sie von der organisatorischen Seite relativ substanzlose Gebilde sind. Die SPD hat bis heute 5000 Mitglieder in Thüringen und außerordentliche Schwierigkeiten Personal zu rekrutieren für Gemeinderäte und Stadträte. Ganz zu schweigen von internen Funktionen, die auch erfüllt werden müssen."

Christoph Matschie zum Beispiel, der Theologe, gründete die SDP, heutige SPD, in Jena mit. Er eröffnete das erste Büro dieser Partei in Thüringen, half mit, Strukturen zu bauen, Programme zu entwerfen, eine Organisation zu formen. Jetzt ist er der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion und Chef des SPD-Landesverbandes. Er sieht seine Partei auf guten Füßen und aktuell als regierungsfähig an, trotz der Umfragen, in denen sie abgeschlagen mit rund 20 Prozent hinter der CDU und der Linkspartei auf dem dritten Platz liegt.

"Mein Eindruck: die SPD hat sich gut entwickelt. Hat mehr Verantwortung übernommen. Gerade bei den Kommunalwahlen 2006 und 09. Die Thüringer SPD stellt den Großteil der Oberbürgermeister im Land, wir sind auch im Bundestag stark vertreten, repräsentieren sechs von neun Wahlkreisen. Ich hoffe, dass wir jetzt anknüpfen können. Mein Ziel ist, dass wir stärkste Partei in Thüringen werden."

Größte Oppositionspartei ist die Linke. Sie startete von einer anderen Ausgangsbasis. Denn sie hatte als SED/PDS inhaltlich größte Verwerfungen auszudiskutieren. Organisatorisch aber konnte auf vergleichsweise eingefahrenen Gleisen laufen konnte.

"Die Stärke der Linken besteht halt darin, dass ein großer Personalbestand von Anfang an da war, Parteimitglieder, als auch Führungspersonal, wo bestimmte Loyalitäten eingespielt waren. Der Nachteil ist halt, dass es eine Zeit gedauert hat, bis man sich in einem System angemessen bewegen konnte, was nach ganz anderen Regeln funktioniert, als das alte System."

Frontmann der Linken ist Bodo Ramelow. Der gebürtige Niedersachse kam als Gewerkschaftssekretär im Februar 90 von Hessen nach Thüringen, wurde später Fraktionschef der PDS im Thüringer Landtag, dann als Bundestagsabgeordneter Chefunterhändler der Fusion zwischen WASG und PDS. Jetzt will er der erste Linke-Ministerpräsident werden - in Thüringen. Er sieht seine Partei durchaus auf dem Kurs, Regierungsverantwortung übernehmen zu können. Die Linke sei auch in Thüringen angekommen in der Demokratie. Aber es sei ein langer Weg gewesen. Er erinnert sich an seinen ersten Parteitag.

"Zu Anfang habe ich gedacht: Die Partei ist verrückt. Mit der kann man ja gar nichts veranstalten. Wir erlebten eine zweistündige Geschäftsordnungsdebatte. Die war davon geprägt, dass man sagt: Wir sind dagegen. Wir wollen gar nicht, wir wollen mit dieser Gesellschaft gar nichts zu tun haben. Man hätte schreien und rausrennen können."

Die Mitglieder seiner Partei hätten einen Pendelschlag vollführt. Bis 89 regierten sie unangefochten. Plötzlich waren sie verpönt. Hätten erst einmal keine Chance gehabt, mit zu regieren, häufig auch nicht in Details mit zu gestalten. Und sie hätten es auch nicht gewollt. Sie hatten, so Ramelow, gut damit zu tun, sich selbst zu definieren. Die autoritär geführte Basis von einst wollte jetzt gar nicht mehr geführt werden, sagt Bodo Ramelow. Keine Führung, kein Programm. Nur Protest. Das brachte Wählerstimmen. Ohne, dass die PDS konstruktive Vorschläge einbringen musste. Im Lokalen schon, auch auf kommunaler Ebene, wo die PDS in Verantwortung kam. Aber auf Landesebene war lange und ist häufig noch das ‚Nein’ eine ausreichende Existenzbegründung. Ramelow ist wahlkampfbedingt vollmundig.

"Jetzt bin ich überzeugt, dass wir einen großen Lernprozess absolviert haben. Das größere Problem ist, ausreichend qualifiziertes Personal zu haben, um Regierung zu organisieren."

Und die Wähler? Die Studie zur politischen Kultur im Freistaat bestätigt gerade den Sympathisanten der Thüringer Linken ein hohes Frustrationspotenzial. Der Politikwissenschaftler Karl Schmitt:

"Das Wählerpotenzial besteht weitgehend aus Leuten, die den Strukturprinzipien, nach denen DDR gebaut war, anhängen. Das ist aber sehr heterogen. Wir haben ja sehr viele junge Wähler."

Schmitt nennt ihre Haltung eine autoritäre, eine Wohlfahrtsstaatliche.

"Die Vorstellung, dass Staat und Gemeinwesen verpflichtet ist, möglichst weitgehend für seine Mitglieder zu sorgen, und dass die Politik darauf zu richten ist, dass die Mitglieder weitgehend freigestellt werden vom Erbringen von eigenen Entscheidungen."

Die Linken Wähler, so zeigen es Studien, pflegen also deutlich mehr, als die Wähler anderer Parteien, ein obrigkeitsstaatliches Denken.

"Nur ist das nicht das Politik- und Menschenbild einer Demokratie."

Interessant dabei ist, dass dieses Politik- und Menschenbild dem der extremen Rechten ähnelt.

"Wir finden bei unserer Rechtsextremismus-Untersuchung, dass sich die Extreme berühren. Das wir so etwas wie einen gemeinsamen Nenner der Auffassungen haben, die wir dann als rechtsextrem einstufen, und denen die den traditionellen DDR-Bildern anhängen."

Mit ihrem dumpfen Protest sind die Linken ein gefundenes Fressen für die allein regierende CDU. Da sie die größte Oppositionsfraktion im Thüringer Landtag stellen, arbeitet sich die CDU besonders gerne an ihnen ab.

Mohring: "Wenn sich Opposition nur in Kritik erschöpft, dass man das Land schlecht redet, dann ist Opposition schlecht aufgestellt."

Mike Mohring, der CDU-Fraktionschef, ist für das Beißen verantwortlich.

"Denn: Demokratie braucht auch eine starke Opposition, die halt genau in den Bieterwettstreit der besten Ideen auch eintritt."

Die mit sich selbst zufriedene CDU – das zumindest ist der Eindruck, den sie gerne vermittelt – verdeckt damit gleichzeitig ihre eigene spannungsreiche Entwicklung. Die DDR-CDU war Feigenblatt-Opposition. Sie vereinte nach der Wende verschiedene Flügel und Menschen. Zum Beispiel aus Bürgerbewegungen, wie dem Demokratischen Aufbruch und der DSU, so sagt es Karl Schmitt und konstatiert:

"Von daher gesehen ist die CDU eine sehr viel komplexere Veranstaltung, als die meisten anderen Parteien."

Nur, das hört man nicht.

"Ich danke besonders den Bürgern für ihr Engagement, für ihr Einbringen in die Demokratie."

Dieter Althaus, CDU, Thüringer Regierungschef.

"Gerade in diesem Jahr der Demokratie, wo wir große Jubiläen feiern."

In seiner jüngsten Regierungserklärung im Juni dankt und lobt er alle, vor allem seine komplexe Partei.

"Ist es glaube ich wesentlich, deutlich zu machen, dass das demokratische Engagement der Menschen entscheidend ist, um das Erbe, das wir vor 20 Jahren übernommen haben mit der friedlichen Revolution, auch gut in die Zukunft hinein zu entwickeln."

Die CDU hat entwickelt. Sich selbst, und auch das Land. Auch die Demokratie.

"Das ist ein großer Auftrag für uns."

Und sie ahnt, dass noch viel zu tun ist.

"Fazit: Die Thüringerinnen und Thüringer konnten und können sich auf uns, meine Landesregierung und mich, verlassen. Wir haben uns sehr darum engagiert, durch Führungsstärke, Kompetenz und Glaubwürdigkeit diesem Land in den letzten Jahren diese Perspektive weiter zu ermöglichen, die es kräftig genutzt hat."

Der CDU-Landeschef spart nicht mit Eigenlob. Demokratie lebt ja auch davon, dass man die Erfolge benennt, heißt es dann. Deswegen klingen die Reden, die er und die Mitglieder seiner Partei anlässlich des Jahres der Demokratie halten, so, und so ähnlich. Landauf landab sind sie gerade in Thüringen zu hören. Denn die Gedenkmaschinerie rollt. Allerdings nutzt jede Partei die historischen Daten, um für sich Werbung zu machen. Also 90 Jahre Weimarer Verfassung, 60 Jahre Grundgesetz und 20 Jahre friedliche Revolution – es sind Daten, die sich politisch gut vermarkten lassen, die aber natürlich auch jeden angehen.
Pflichtgemäß absolviert das offizielle Thüringen einen umfangreichen Erinnerungsparcours. Schulen, Stiftungen, Bildungsinstitutionen bieten etliche Termine an, um an diese Daten zu erinnern, ihr Erbe wahr zu nehmen. Und das Volk?

Althaus: "Fast 80 Prozent aller Thüringerinnen und Thüringer halten die Demokratie für die beste aller Staatsideen. Die außerordentlich stabile Zustimmung zu den demokratischen Werten darf uns aber auch nicht darüber hinweg täuschen, dass jeder fünfte Befragte, etwa 22 Prozent, auch sagen, wir sollten zur sozialistischen Ordnung zurückkehren."

Es ist die jährliche Debatte um die jeweils aktuelle Studie von Politikwissenschaftlern der Uni Jena zur politischen Kultur im Freistaat Thüringen, hier: vorgetragen im Dezember 08.

Althaus: "Und außerdem stimmt es auch nachdenklich, dass die Unterstützung der demokratischen Praxis, also Plenardebatten, Wahlkampf, Abstimmungsprozesse, erheblich schwankt. Die Mehrheit der Thüringerinnen und Thüringer ist mit dem demokratischen Alltag unzufrieden."

Die Studie ist ein umfangreiches Dokument, eine Agenda für die politische Bildung. Es gibt sie seit neun Jahren. Jedes Mal wird sie ausführlich im Landtag debattiert. Die gut geübten Reflexe sowohl von Regierung als auch von Opposition springen allerdings nur noch mühsam an.

Hausold: "Das alles ist nicht vom Himmel gefallen."

Dieter Hausold, Fraktionschef der Linkspartei.

"Das alles ist das Ergebnis von 18 Jahren Politik unter Führung der Thüringer CDU in diesem Land, meine Damen und Herren."

SPD-Fraktionschef Christoph Matschie erinnert unter anderem an ein Volksbegehren gegen die CDU-Familienpolitik.

"Und was hat die Landesregierung gemacht? Sie ist gegen das Volksbegehren vor Gericht gezogen, und hat das Volksbegehren juristisch gestoppt, statt Menschen zu ermutigen, sich für die Demokratie einzusetzen."

Und er erinnert daran, dass die CDU die Bemührungen, die Hürden für direktdemokratische Elemente zu senken, konterkarierte.

"Darf ich sie erinnern, wie sie damit umgegangen sind, als Menschen sich für mehr Demokratie in den Kommunen eingesetzt haben in Thüringen? Wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht hier im Landtag. Sie haben zwei Jahre lang diesen Gesetzentwurf blockiert, sie haben sich keinen Millimeter bewegt. Und als die Menschen sich selbst auf den Weg gemacht haben, und ein Volksbegehren erfolgreich gestartet haben, dann haben sie die Leute ausgetrickst, und dem Volksbegehren die gesetzliche Grundlage entzogen. So gehen sie mit der Demokratie um."

Das war ein hartes und zähes Ringen. In letzter Minute haben die Protagonisten des Volksbegehrens, und mit ihnen Matschie, einen Kompromiss ausgehandelt.

Matschie: "Und dann stellt sich der Ministerpräsident hier hin und fordert die Leute auf, sich mehr einzumischen. Sie müssen sich mal entscheiden, was sie eigentlich wollen: die Bürger verhöhnen? Das kann nicht Sinn und Zweck einer solchen Veranstaltung sein."

Die CDU und die direkte Demokratie. In allen Punkten musste sie dem Druck zweier Volksbegehren nachgeben. Eigentlich präsentiert sie sich gern als guter Gärtner des "Gartens der Demokratie". Aber der Garten, so unken die Kritiker, ist sehr klein. Er wird vom Parlament beackert. Hauptsächlich hat er drei große Bäume, einer gehört der CDU, einer der SPD, einer der Linken. Dann kommt schnell der Zaun. Grüne und ganz gelegentlich die FDP dürfen etwas darüber rufen. Die CDU unterstreicht bei jeder Gelegenheit das Plus der parlamentarischen Demokratie. Mit der hat sie kein Problem, sie profitiert ja auch von ihr, da sie allein regiert. Vielleicht deshalb hat sie ihre liebe Not mit anderen Gewächsen der Demokratie.
Beck: "Die CDU ist im vergangenen Herbst durch den Garten der Demokratie gelatscht, als sei es ihr eigener."

Ralf-Uwe Beck ist der Mann, nachdem etliche Thüringer ein Demokratie-Denkmal benennen würden, wenn es eines gäbe.

"Das war ausgesprochen schmerzlich, das so zu erleben. Respektlos, es zu unterhöhlen. Durch ein eigenes Gesetz. Das hat ein Demokratieverständnis offenbart, das dem Geist des Herbstes 89 widersprochen hat."

Der Pfarrer ist der Mann der direkten Demokratie. Vertrauensperson zweier Volksbegehren, die sich für eine Verbesserung direktdemokratischer Elemente erst auf Landes- dann auch kommunaler Ebene eingesetzt haben. Erfolgreich. Der Pfarrer hat die 2000 Helferinnen und Helfer zusammen gehalten, über zehn Jahre lang.

Ramelow: "In der ersten Besprechung war ich Feuer und Flamme, weil ich die Idee unglaublich gut fand, mit dem Thema die ‚Demokratie’ selber zum Thema zu machen, anfassbar zu machen, handhabbar zu machen."

Sagt der Spitzenmann der Linken, Bodo Ramelow. Doch die CDU, so empfindet es SPD-Spitzenmann Christoph Matschie, hat Angst vor dem mündigen Bürger.

"Mein Eindruck ist, dass es in der CDU stärker ein autoritäres Denken gibt. Da heißt es: ‚da gibt es ja gewählte Stadt- und Gemeinderäte, Bürgermeister, Landräte, die ihr einmal gewählt habt, dann müsst ihr denen auch mal vertrauen und denen nicht reinreden’. Ich halte das für falsch."

Auch Ralf-Uwe Beck, selbst hoch aktiv in der Wende, meint, dass die CDU das Erbe der Revolution mit Füßen tritt. Er zitiert Forderungen der Runden Tische nach direkter Demokratie. Da mute es schon merkwürdig an, dass nun ausgerechnet die CDU das Jahr der Demokratie feiert, als hätte sie es erfunden.

"Es gibt Brüche. Der erste ist, dass wir den mündigen Bürger des Herbstes 89 besingen. Das werden wir jetzt in diesem Jubiläumsjahr hören und lesen dürfen. Man hat aber diesen mündigen Bürger schon wenige Jahre danach offensichtlich nicht mehr all zu viel zugetraut."

Nur alle paar Jahre wählen zu gehen, und nicht einmal Menschen abwählen zu können, weil sie über eine Liste abgesichert sind, das sei zu wenig, sagt Beck. Demokratie sei eben ein Garten mit vielen Pflanzen, die müssten zugelassen und gepflegt werden. Die CDU entgegnet: sie wolle nur Unkraut verhindern. Ein Beispiel aus dem Volksbegehren: Die CDU will, dass die Unterschriften für Volksbegehren und Volksentscheide, Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in den sogenannten Amtsstuben geleistet werden, wo die Unterschriftswilligen mutmaßlich Zeit und Ruhe haben, das Anliegen zu lesen und darüber nachzudenken. Die Vertreter der direkten Demokratie wollen, dass Menschen auf der Straße angesprochen werden und dort auch unterschreiben können. Fraktionschef Mike Mohring:

"Eine Sorge ist, dass Populisten davon Gebrauch machen können. Wir haben lange gestritten, ob Amtsstubensammlung nicht die bessere Variante ist. Nur, auf dem Markt dringen Populisten durch, das kann der Demokratie schaden. Dass muss man vorher in einen Denkprozess einweben. Jetzt muss die Demokratie zeigen, dass sie das aushält."

Die Opposition findet in der Tat, dass mündige Bürger erwachsen reagieren können. Und sie denkt, dass die CDU nicht aus Sorge so argumentiert, sondern aus Angst. Aus der Angst nämlich auch vor den eigenen Parteimitgliedern. Sie kommt zu dem Schluss, die CDU Regierung habe es sich in ihrer Alleinherrschaft zu bequem gemacht. Sie fürchte, ihre hauchdünne Mehrheit zu strapazieren, sie hat 45 Sitze im Parlament, SPD und Linke zusammen 43. Sobald einer dagegen ist, wird es eng. Bodo Ramelow:

"Ansonsten wirkt sie, wie eine Seilschaft im hohen, schweren Gebirge, bei der keiner vom Seil gelassen werden darf. Sonst ist die Angst, die Mehrheit zu verlieren."

Angst ist ein schlechter Berater für die Demokratie, sagt Pfarrer Ralf-Uwe Beck. Jede Regierung dürfe ihren Bürgern etwas zutrauen.
Das erstaunliche daran ist: das Gros des jetzigen Führungspersonals beruft sich auf seine Wendesozialisation, auf die politische Initialisierung im Herbst 1989. Auf gelebte, risikoreiche Basisdemokratie jenseits der gelenkten Bahnen.
Vielleicht hilft das Jahr der Demokratie, wieder dem Volk mehr zu zutrauen. Und damit die schon vorhandene, und gut funktionierende Demokratie zu pflegen, zu wässern, zu düngen. Denn es ja schon viel gewachsen, die Strukturen sind stabil, das Personal erfahren, die Zivilgesellschaft ist wach. Der nächste Entwicklungsschritt wäre, so sagt es Demokratie-Mann Ralf-Uwe Beck, wieder offener zu werden für den Einzelnen, für dessen Erfahrungen, dessen Ideen, dessen Leben. Denn solche offenen Gespräche, die er zum Beispiel während des Volksbegehrens auf der Straße hatte, unvermittelt und authentisch, die haben ihn am meisten berührt.

"So wünschte ich mir, dass wir Menschen anschauen. So offen, in dem, was sie mitbringen, mit dem, womit sie mich überraschen können, mit ihrer Neugierde auf das, was ich ihnen zu sagen habe. Da kann man ins träumen kommen von – wie eine Gesellschaft gestimmt sein könnte. Oder auch: wie Politik die Menschen anschauen sollte."