Kirchentag im Reformationsjubiläumsjahr

Funktioniert die Reformation als Referenz für heute?

Ein überdimensionales Kreuz ziert den Luthergarten in Lutherstadt Wittenberg.
Wie kann die Evangelische Kirche verhindern, dass weiter so zahlreich Mitglieder austreten? © picture alliance/ dpa/ Jan Woitas
Von Kirsten Dietrich · 28.05.2017
Ist das Denken Luthers und anderer Reformatoren Handlungsanleitung für heute oder nur vage zu erinnernde Vorgeschichte mit paar Anekdoten fürs Kirchenkabarett? Kirsten Dietrich hat beim Kirchentag in Berlin nach Antworten gesucht.
So hätte sich Luther seine Erben nicht vorgestellt: Die Arme von Nadia Bolz-Weber sind bedeckt mit Tattoos, sie trägt Schwarz mit Stil und sie ist cool. Für Nadia Bolz-Weber ist die Reformation zentral - angefangen beim Thesenanschlag.
"In unserer Gemeinde haben wir mal T-Shirts gedruckt, vorne mit unserem Logo, Pergament und Nagel, und auf der Rückseite stand: Radikale Protestanten, wir nageln Kram an die Kirchentür seit 1517."
"House for All Sinners and Saints” heißt die Gemeinde von Bolz-Weber in Denver Colorado - Haus für alle Sünder und Heilige. Und das mit der Sünde nimmt Bolz-Weber wirklich ernst. Die Menschen nicht nur in ihrer Gemeinde seien gelähmt vom Widerspruch zwischen ihrem unperfekten Selbst und dem Idealbild, nach dem sie meinen streben zu müssen. Hat Martin Luther nicht genau das mit dem Gefangensein unter dem Gesetz gemeint?
Nadia Weber-Bolz: "Luther war bereit, alles zu verlieren für das Evangelium - er glaubte mehr an die Freiheit des einzelnen Christen als an die Institution Kirche."
Zurück zu den Menschen, zu ihrem existentiellen Kampf gegen Ansprüche und den Zwang zur Selbstoptimierung - das ist Nadia Bolz-Webers Interpretation von Reformation. Eine Kirche, die auf diese Weise reformatorisch ist, müsse sich keine Sorgen mehr um ihre Zukunft machen. Das Publikum ist begeistert. Und bewegt, denn Bolz-Weber beendet ihren Vortrag sehr selbstverständlich mit einem Segen. Ecclesia semper reformanda - die Kirche muss immer erneuert werden - für Kirchentagspräsidentin Christina Aus der Au ist dieser Impuls aus der Reformationszeit auch nach 500 Jahren noch wirksam.
"Müssen wir vom statischen Gottesbild und vom diakonisch-ethischen Jesus Christus nicht einen Schritt machen hin zum dynamischen Geist, der weht, wo er will und sich nicht auf Kirchenmauern beschränkt und nicht auf rechte Theologie und richtige Organisation?"

Die Sehnsucht nach Veränderung ist spürbar

Die Kirchen sind immer perfekter organisiert und werden gleichzeitig immer leerer - das nagende Unbehagen deswegen ist bei vielen Veranstaltungen des Kirchentags spürbar. Man steckt in einem Netz aus Sitzungen und Organisation statt einfach zu machen. Christina Aus der Au:
"Wir reden von Gnade und Befreiung, und offenbar ist niemand da, den das interessiert. Oder nur dann, wenn sich die Kirche selber säkularisiert. Und auf Diakonie und Ethik reduziert."
Die Sehnsucht nach Veränderung, nach einem Aufbruch - wie bei der Reformation eben - ist spürbar. Das Problem ist nur: Wie soll das gehen? Vielleicht fehlt der Gegner, wie ihn Luther noch hatte. Die negativen Folgen von Globalisierung und Digitalisierung sind spürbar, aber für den einzelnen schwer zu greifen. Deswegen läuft auch der Wunsch nach Veränderung irgendwie ins Leere. Jedenfalls in Europa.
In anderen Weltregionen sieht das anders aus. Beim Kirchentag fragte das Centre Reformation and Transformation nach Erfahrungen mit der Reformation außerhalb des Lutherlandes. Eine der Referentinnen ist Seforosa Carroll, Theologin im australischen Sydney.
Sie setzt sich theologisch mit den Folgen des Klimawandels für die Pazifikregion auseinander. Teil davon ist ein genauer Blick in die Tradition. Ihre Kirche, die Uniting Church of Australia, ist geprägt vom britischen Theologen John Wesley und der methodistischen Tradition.
"Was hat Wesley zum Klimawandel gesagt? Als Mann seiner Zeit: gar nichts, Umwelt war für ihn kein Thema. Er lebte während einer industriellen Revolution, deren Folgen heute den Klimawandel im Pazifik verursachen. Also suchen wir nach Grundprinzipien bei Wesley, mit denen wir neu über den Klimawandel nachdenken können."
Eine neue Lektüre biblischer Texte ist eines dieser Prinzipien, gut reformatorisch und zukunftsweisend: Es mache nämlich einen Unterschied, ob man zum Beispiel die Erzählung von der Sintflut als Rettungsgeschichte lese - und damit Lähmung angesichts der Folgen von Klimawandel und steigender Meeresspiegel verstärke. Oder ob man die Geschichte als Ermutigung lese, sich sehenden Auges mit Gott einer Katastrophe zu stellen.
"Wir müssen uns kritisch mit der Tradition auseinandersetzen, wenn sie für heute und auch für die Zukunft Bedeutung haben soll. Dann brauchen wir eine Reformation: wenn die Theologien der Vergangenheit nicht mehr hilfreich und relevant sind. Und im Gegenteil Menschen daran hindern, sich so frei zu entfalten, wie Gott das will."

Deutsche Kirchen stehen vor schleichender Erosion

Die Kirchen in Deutschland stehen nicht vor Katastrophen, sondern vor schleichender Erosion. Eine Situation, die nach reformatorischem Handeln ruft, findet die Pastorin Sandra Bils.
"Wie kann man Tradition und Innovation zusammendenken, das ist schon so ein ur-reformatorisches Erbe. Welche Traditionen wollen wir beibehalten, welche sind gut, welche dürfen wir nicht aufgeben, damit wir auch nicht beliebig werden, andererseits: wo müssen wir uns von liebgewonnenen Vertrautheiten verabschieden und wirklich nochmal neue Wege suchen, das Evangelium zu leben und zu verkündigen."
Bils arbeitet als Referentin für das Projekt Kirche hoch zwei. Ihre Aufgabe ist es, neue Formen von kirchlicher Arbeit überall in der hannoverschen Landeskirche aufzuspüren, engagierte Menschen zu stärken und Raum für neue Ideen zu schaffen.
"Auch im Rahmen meiner Arbeit such ich immer wieder nach Martin und Martina Luthers der heutigen Zeit, denn es gibt ganz viele tolle Leute. Die in meiner Arbeit zu fördern, vielleicht noch viel mehr Menschen in so Richtung zu sensibilisieren, das ist mein Dienst, das macht mir großen Spaß."
Denn mehr noch als nach Impulsen und Anstößen und Aufbruch suchen die Protestanten vielleicht: nach Persönlichkeiten. Vielleicht nicht unbedingt nach einer Urgewalt, wie sie Martin Luther wohl war, aber nach Menschen, von denen man sich mitreißen lässt zu etwas ganz Neuem, auch beim Glauben. Persönlichkeiten wie Nadia Bolz-Weber. Standing Ovations bekam sie nach ihrem Vortrag, und danach standen die Fans Schlange für Gespräche, Umarmungen, Selfies. Und für Segen.
Nadia Bolz-Weber: "Denn was die Kultur um uns herum niemals tun wird: Das Evangelium predigen, die Sakramente spenden und die Vergebung der Sünden zusprechen. Und warum? Weil das unser Job ist. Dafür ist die Kirche da."
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