Keine Alternative: Freiheit oder Sicherheit?

Von Richard Herzinger · 29.08.2006
Die derzeit wieder häufig gestellte Alternative: "Freiheit oder Sicherheit?" führt in die Irre. Um dem islamistischen Terrorismus zu widerstehen, müssen wir unsere Grundrechte nicht aufgeben. Im Gegenteil: Die unverhohlenen terroristischen Mordabsichten stellen unser erstes Grundrecht zur Disposition: das auf Würde und Unversehrtheit der Person.
Die Frage, welche zusätzlichen polizeilichen und geheimdienstlichen Maßnahmen notwendig sind, um der Bedrohung durch verstärkte terroristische Aktivitäten in Deutschland wirksam entgegenzutreten, und wie wir erweiterte Befugnisse der Behörden rechtsstaatlich kontrollieren können, ist letztlich technischer Natur. Von viel grundsätzlicherer Bedeutung ist es, dass wir uns darüber klar werden, mit welcher Art von Bedrohung wir es überhaupt zu tun haben und was wir gegen sie verteidigen wollen. Darüber hat sich unsere Gesellschaft nach wie vor kein deutliches Bild gemacht.

Noch immer ist in Europa die Vorstellung verbreitet, bei den islamistischen Gewalttätern handele es sich um so etwas wie irregeleitete Befreiungskämpfer, die mit ihren Aktionen die vermeintliche Demütigung der muslimischen Welt durch den Westen rächen wollten. Aber den Dschihadisten liegt in Wirklichkeit nichts an den Rechten und am Leben von Muslimen. Den britisch-pakistanischen Terroristen, die zehn amerikanische Linienflugzeuge in die Luft sprengen wollten, und den verhinderten Attentätern auf Regionalzüge in Nordrhein-Westfalen war es gleichgültig, wie viele Muslime unter ihren Opfern gewesen wären. Ihre Gesinnungsgenossen im Irak metzeln täglich ohne Skrupel Dutzende von Menschen nieder, die an den Propheten Mohammed glauben. Zehntausende sind ihnen schon zum Opfer gefallen.

Die Dschihad-Ideologie nimmt die vermeintliche Unterdrückung von Muslimen durch den Westen nur zum Vorwand, um ihrem totalen Herrschaftsanspruch weltweit blutige Geltung zu verschaffen. Es ist die Verheißung dieser Ideologie, nicht das Mitgefühl mit leidenden islamischen Brüdern und Schwestern, das den Dschihadismus nun auch für eine wachsende Zahl junger Immigranten der zweiten und dritten Generation in Europa attraktiv macht. Diese Ideologie ermöglicht es, Allmachtsphantasien auszuleben und sich gegenüber einer Umwelt von "Ungläubigen" erhaben und auserwählt zu fühlen. Das Bewusstsein, nach eigener Willkür über Leben und Tod tausender von Menschen zu entscheiden und sich dabei noch im Einklang mit den Geboten einer höheren Macht wissen zu dürfen, erzeugt jenen Rauschzustand, der auch die Hingabe des eigenen Lebens per Selbstmordattentat attraktiv macht.

Europa muss erkennen, dass diese Ideologie nicht durch Nachgeben oder Verständnis für die vorgeschobenen Forderungen der Dschihadisten zu besänftigen ist. Der britisch-indische Schriftsteller Salman Rushdie, der von dem islamistischen Regime im Iran mit einer Todes-Fatwa belegt worden war, sagte in einem "Spiegel"-Interview soeben zu Recht: "Wenn von heute auf morgen etwa der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern durch ein Zaubermittel gelöst wäre, ich glaube, wir würden nicht weniger Anschläge erleben." Dem Dschihadismus geht es nicht um günstigere Lebensbedingungen für die islamische Welt, sondern um die globale Unterwerfung aller "Ungläubigen". Sie wollen nicht das Schlechteste am Westen, seine Missstände, beseitigen, sondern das Beste an ihm: seine Rechtsstaatlichkeit, seine individuelle Freiheit, seinen universellen Humanismus.

Es ist eine fatale Illusion anzunehmen, die Dschihadisten würden ihre Vernichtungsdrohungen nicht so meinen, wie sie klingen. Das sollten wir uns nicht zuletzt vor Augen halten, wenn es um das Verhältnis zu Israel geht. Bei aller möglichen Kritik an der israelischen Politik dürfen die Maßstäbe nicht verschoben werden. Israel stehen mit Hisbollah und Hamas Feinde gegenüber, die unverhohlen mit der Auslöschung seiner Existenz drohen. Das tun auch ihre Finanziers und Ausrüster in Teheran. Neuerdings wird in Europa schon ernsthaft die Frage gestellt, ob Israel überhaupt werde überleben können. Damit begibt man sich in eine selbstmörderische Logik. Bevor wir Bundeswehrsoldaten zur Befriedung des Nahen Ostens in den Libanon schicken, muss uns klar sein: Nicht um den Juden aus schlechtem Gewissen über unsere Vergangenheit einen Gefallen zu tun, müssen wir Israel zur Seite stehen, sondern weil das Verschwinden dieser westlichen Demokratie im Nahen Osten der Anfang vom Ende der westlichen Freiheit wäre.

Dr. Richard Herzinger, Jahrgang 1955, ist Journalist und Buchautor. Er arbeitet als außenpolitischer Redakteur bei der "Welt am Sonntag". Zuvor war Herzinger Deutschlandkorrespondent der in Zürich erscheinenden "Weltwoche" und hatte als Redakteur und Autor der Wochenzeitung "DIE ZEIT" gearbeitet. Letzte Buchveröffentlichungen: "Die Tyrannei des Gemeinsinns - ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft" und "Republik ohne Mitte".
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