Kein Land des Leidens

06.01.2011
Der polnische Historiker Włodzimierz Borodziej beschreibt die Geschichte seines Landes im vergangenen Jahrhundert so spannend wie emotionslos. Das Buch ist hochinformativ und lässt sich mit Genuss lesen.
Als "Christus der Völker" hatte Adam Mickiewicz Polen im 19. Jahrhundert tituliert – und noch heute sehen viele Polen ihr Land in einer exzeptionellen Opfer-Rolle. Zuletzt konnte die Weltöffentlichkeit die Stabilität der Nationalmythologie nach dem Tod von Präsident Kaczynski bei einem Flugzeugabsturz im April 2010 beobachten. Włodzimierz Borodziej indessen distanziert sich in der Geschichte Polens von metaphysischen Überhöhungen: "Die polnische Geschichte im 20. Jahrhundert ist nicht exotischer als die Geschichte anderer Länder."

Gründlich geht Borodziej auf das multiethnische Durcheinander ein, das Polen - infolge der Teilungen im 18. Jahrhundert und der Beschlüsse des Wiener Kongresses - vor der Wiedererlangung der staatlichen Souveränität nach 1918 gekennzeichnet hat. Die Frage, wo Polen eigentlich liege, ließ sich um 1900 schwer beantworten. Allein "Kongresspolen" samt Warschau und Lodz galt unstrittig als polnisch, anders dagegen Westpreußen, Ermland, Galizien und die riesigen Gebiete vom (heutigen) Litauen bis in die Ukraine. Borodziejs dichte, mit Zahlen gespickte Darstellung eignet sich zum Zweimal-Lesen: Einmal, um sich in der hochkomplexen historischen Situation zu orientieren, ein zweites Mal, um die lakonischen Ausführungen im Zusammenhang zu genießen.

Polen war (und blieb) die größte Nation zwischen Deutschland und Russland beziehungsweise der Sowjetunion – und paktierte mit keiner Seite. Lenin klagte im Rückblick, selbst polnische Bauern und Kleinbürger hätten sich nicht "sozial, revolutionär", sondern "national, imperialistisch" verhalten, als die Rote Armee die Revolution nach Westen tragen wollte. Borodziej skizziert die Entstehung der parlamentarischen Demokratie (bis 1926) und der Diktatur unter Józef Piłsudski (bis 1939). Unermüdlich benennt er alle politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren – etwa den Streit zwischen Gutsbesitzern und Bauern, die Entstehung der "Intelligenz", die Rolle der Juden und des Antisemitismus, die demokratische Unreife der meisten Politiker, die Ungleichzeitigkeit der Modernisierung –, ohne jemals in einen wärmenden Erzählton zu verfallen. Mit Borodziej studiert man die polnische Geschichte sachlich-kühl; die Menschen selbst, das Menschliche und Unmenschliche der Ereignisse bleiben im Hintergrund; literarische Zitate sind rar.

Die Stalinisierung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg brachte laut Borodzeij keine totale Gleichschaltung: Bauernschaft und Katholizismus blieben widerspenstig. Im "anderen" Staatssozialismus unter Gomułka bis 1970 und im "Bigoskommunismus" bis 1980 zeigte Polen innerhalb des Ostblocks eigenwillige Konturen. Indem Borodzeij die Gewerkschaft Solidarność, die Zeit des Kriegsrechts und das Pontifikat von Johannes Paul II. untersucht, wird Polens Anteil an der Zeiten-Wende von 1989 überdeutlich. Für Borodzeij ist das Land seither "überraschend schnell in die postmoderne Wirklichkeit" hineingewachsen.

Die Geschichte Polens im 20. Jahrhundert endet mit dem EU-Beitritt 2004, Polens Rolle in Europa erscheint für Borodzeij offen. Sein Werk ist jedem zu empfehlen, der sich über Polen ohne Pathos informieren möchte. Dass der polnische Weg manchmal sehr wohl ein Sonderweg war, bleibt nicht verborgen. Doch den (resp. das) "Christus der Völker" darf man getrost vom Kreuz abnehmen.

Besprochen von Arno Orzessek

Włodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert
C. H. Beck Verlag, München 2010
489 Seiten, 39,95 Euro