"Kassandra-Syndrom"

Warum Warnungen so oft in den Wind geschlagen werden

04:27 Minuten
Historischer Stahlstich von Ferdinand Rothbart, 1823 - 1899, ein deutscher Illustrator. Der Stich zeigt die Figur der Kassandra aus der griechischen Mythologie.
Wie die Figuren in der griechischen Mythologie neigen auch moderne Gesellschaften dazu, ihren Kassandras kein Gehör zu schenken. © imago / imagebroker
Ein Standpunkt von Jürgen Wertheimer · 23.06.2020
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Der Brand von Notre Dame, die Verbreitung des Coronavirus oder der Völkermord von Ruanda: Viele Tragödien oder Katastrophen ließen sich verhindern, hätte man nur auf die gehört, die frühzeitig gewarnt hätten, meint der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer.
Ob der Untergang der Titanic, der Brand von Notre Dame, die Verbreitung des Covid-19-Virus, die Balkankriege oder der Völkermord von Ruanda, die Flüchtlingskrise, privates oder kollektives Scheitern: allen diesen Ereignissen liegt dieselbe Grundstruktur zugrunde. Alle hätten vermieden werden können, wenn man genauer hingeschaut und schneller reagiert hätte. Alle diese "Tragödien" oder "Katastrophen" wurden allein durch unser Versagen ermöglicht.
Die Verantwortung liegt also bei uns – wir selbst sind die Akteure unsers "Schicksals". Wir sind es, die Verhängnisse stoppen könnten – wenn wir uns mental voll und ganz auf das jeweilige Geschehen einlassen, statt Bilder von dem, was wir sehen wollen, anzustarren.
Wahrnehmungsforscher zeigen, dass sich unser Gehirn um der Effizienz willen stark darauf programmiert hat, in Sekundenbruchteilen Wesentliches von – vermeintlich – Unwesentlichem zu trennen und alle Hintergrundgeräusche wegzufiltern. Was im Alltag nützlich ist, um auf der Spur zu bleiben, kann sich in Krisensituationen als verhängnisvoll erweisen. Denn oft sind die ersten, für das weitere Geschehen entscheidenden Warnhinweise und Signale leise und kaum wahrnehmbar: Ein winziger, verräterischer Rauchfaden auf dem Dach von Notre Dame wurde übersehen.

Flotten unsinkbarer Geisterschiffe

Doch selbst im Fall deutlich erkennbarer Signale verfügen wir über erstaunliche Fähigkeiten des Ausblendens. Weder Treibeisschollen noch Eisbergwarnungen vermochten die Titanic von ihrem Kurs abzubringen. Man rauschte "full speed" ins Verderben. Im Abschlussbericht ist dann vage von einer "Verkettung unglücklicher Zufälle" die Rede. Man sollte besser von einer Kette menschlicher Fehleinschätzungen sprechen – das Schiff wurde als "practically unsinkable" vermarktet.
Und es sind ganze Flotten solch "unsinkbarer Geisterschiffe" unterwegs. Oft schwingen durchaus gewichtige Gründe mit, wenn es für uns darum geht, unberatbar zu sein. Denn wer auf eine Warnung hört, ist gezwungen, Position zu beziehen und unter Umständen aus dem Mainstream auszuscheren. Und er ist letztlich dazu gezwungen zu handeln, aktiv zu werden, während derjenige, der ein "ruhig weiter so" propagiert, ein zunächst weit weniger anstrengendes Leben führt.

Unerwünschte Wahrheiten

Das "Kassandra-Syndrom" beherrscht nach wie vor unseren Alltag und diejenigen, die Warnungen aussprechen, leben gefährlich. Nicht nur Whistleblower wie Edward Snowden oder Chelsey Manning, die man als Verräter und Nestbeschmutzer diffamierte. Die Beispiele sind Legion: Anerkannte Persönlichkeiten werden in dem Moment zu Problemfällen, wenn sie die Stimme gegen das Kartell des Verschweigens erheben.
So wurde der Capitän des US Flugzeugträgers Brett Crozier seines Postens enthoben, als es wagte, darauf hinzuweisen, dass sein Schiff innerhalb weniger Tage zu einem Hotspot des Coronavirus werden könnte. Und dem chinesischen Arzt Li Wenliang wurden seine Hellsichtigkeit und sein Mut zum Verhängnis. Weil er es gewagt hatte, vor den eminenten Folgen des Virus zu warnen, wurde er mundtot gemacht. Wenig später war er tot.
Bevor die Gletscher und Eisberge nicht vor unseren Augen schmolzen, waren wir nicht bereit, an den Klimawandel zu glauben. Bevor George Floyd nicht im Straßengraben vor unseren Augen erstickte, war das Thema Rassismus marginal.
Unerwünschte Wahrheiten haben lange keine Chance auf Gehör – und deshalb geschieht dann all das, was uns im Nachhinein immer tief "betroffen" macht und von "Unbegreiflichem" schwadronieren lässt.
Erst dichten wir unsere Wahrnehmung gegen die Wirklichkeit ab, weil nicht sein darf, was nicht sein soll. Dann beobachten und sondieren wir. Dann sind wir wieder einmal mehr fassungslos. Wann werden wir endlich begreifen und lernen, unseren eigenen Beobachtungen zu glauben, Schlüsse daraus zu ziehen und rechtzeitig zu reagieren?

Der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer war bis zu seiner Emeritierung 2015 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Tübingen. Seit 2017 leitet er das Projekt "Cassandra", das Studien über den Zusammenhang von Literatur und potenziellen Gewalt-Dynamiken in Krisengebieten erstellt.

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