Kapitalismus, Regulierung und das rechte Maß

Von Hasso Spode · 24.11.2008
Der Zusammenbruch des Kasinokapitalismus kam gerade noch rechtzeitig. Die Raffgier der Investmentbanker hat mithin die Chance eröffnet, dass sich die politischen Kulturen in Amerika und Europa wieder annähern können. Hierzulande war die Stimmung schon im Wahljahr 2005 gekippt. Die Litanei des Gürtelengerschnallens und Privatisierens, die bis dahin die politischen Talk-Shows beherrscht hatte, ist verstummt. Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel.
Diese Konstellation ist nicht grundsätzlich neu. Seit es den Kapitalismus gibt, also seit gut 200 Jahren, streiten Etatisten und Marktliberale, wem der Vorrang gebührt: dem Staat oder dem Markt, der Politik oder der Ökonomie, der Steuerung oder der Selbststeuerung. Dieser Streit zeigt eine zyklische Wellenbewegung, wobei die Trendwende immer dann eintrat, wenn eine Seite – die Etatisten oder die Liberalen – die Deutungsmacht errungen hatte. An diesem Punkt treten plötzlich die Nachteile des jeweiligen Weges in den Blick, es beginnt ein Umdenken und schließlich ein Umsteuern.

Auf das durchregulierte Wirtschaftssystem des Absolutismus folgte der entfesselte Manchester-Kapitalismus. Der Staat sollte bestenfalls noch als "Nachtwächter" fungieren. Die Barrieren, die Handel und Ausbeutung behinderten, wurden weggeräumt, und der Franzosenkönig Louis Phillippe gab 1830 die Devise aus: "bereichert euch!". Doch für die Masse fiel wenig ab vom Tisch der Neureichen, und in vielen Feldern erwies sich die Effizienz des Marktes als ineffizient. Als erstes wurde die Eisenbahn in staatliche Regie überführt, und seit dem Ersten Weltkrieg wurde der Markt mehr und mehr gezähmt - und schließlich gelähmt.

Die Nachkriegszeit war von dem Glauben an die Planbarkeit beseelt; bestärkt durch ein schier endloses Wachstum. Dann kam das Jahr 1973: der Ölpreisschock und die Auflösung fester Währungsparitäten markierten das Ende des Wirtschaftswunders; es setzte der Prozess ein, den wir heute "Globalisierung" nennen. Die längst überwunden geglaubte Arbeitslosigkeit kehrte zurück. Die klassischen Lenkungs-Instrumente versagten ihren Dienst. Stattdessen obsiegte eine neoliberale Wirtschaftsdoktrin, die den Nationalstaat wieder auf seine "Nachtwächterfunktion" reduzieren wollte und die Idee von Louis Phillippe erneuerte, dass es für alle am besten sei, wenn die Reichen sich bereichern. Nur hieß das jetzt "Sickertheorie". Umgesetzt wurde dieses Programm zunächst von Ronald Reagan und Margret Thatcher; nach und nach gelang es, die Entstaatlichung zur globalen Leitlinie zu machen, der sich nur wenige Volkswirtschaften entziehen konnten. Am allerwenigsten die Europäische Union. Nach amerikanischem Vorbild verstand es Brüssel, eine kleinliche Regulierung des Alltags mit großzügiger Deregulierung der Wirtschaft zu verbinden. Vor allem deshalb hatten Franzosen und Holländer die EU-Verfassung abgelehnt – die Rote Karte für ein angloamerikanisches Europa.

Aber erst der jetzige Kollaps des Finanzsystems bringt dieses Legitimationsdefizit wirklich ins politische Bewusstsein. Doch Vorsicht: Wer mit Jürgen Habermas das Ende des "Privatisierungswahns" feiert, sollte eines nicht vergessen: Der Etatismus war tatsächlich an seine Grenzen gestoßen. Es gab handfeste Gründe umzusteuern, voran die Produktionskosten und die Staatsverschuldung.

Wir sollten daher Oskar Lafontaine nicht den Gefallen tun, in die Grabenkämpfe des 20. Jahrhunderts zurückzufallen. Schließlich haben wir es stets mit einer Gemengelage aus Markt und Staat zu tun. Statt einer reinen Lehre das Wort zu reden, sollten wir es mit Aristoteles halten: Richtschnur allen Handelns sei die Mesotes, das "rechte Maß".

Den Investmentbankern fehlt bekanntlich jedes Maß – und wer sie gegen eine "Pogromstimmung" in Schutz nehmen will, sagt damit nur, dass die Maßlosigkeit systembedingt ist. Das hatte schon Karl Marx so gesehen. Der Lösungsweg des Marxismus aber hat sich auf seine Art ebenfalls als maßlos erwiesen. Zuviel Staat erstickt den Markt, zu wenig lässt ihn zum Monster werden. Es gilt also, wieder einmal eine neue Balance bei der Einhegung des Kapitalismus zu finden. Der Politikwechsel in Amerika bietet hierfür gute Chancen. Nicht der Kapitalismus ist am Ende, sondern eine Ideologie, die ihn vergöttert hat.

Hasso Spode, Jahrgang 1951, leitet an der Freien Universität Berlin das Historische Archiv des Scharnow-Instituts und ist Professor an der Leibniz-Universität Hannover. Der Historiker und Soziologe hat er sich mit anthropologischen Themen befasst (z.B. "Die Macht der Trunkenheit"/1993 und "Wie die Deutschen Reiseweltmeister wurden"/2003). Zudem liegt sein Forschungsschwerpunkt auf der Analyse politischer Prozesse; hierzu erschien: "Ressource Zukunft. Die sieben Entscheidungsfelder der deutschen Reform", Budrich Verlag, 2008.
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