Kampf um Pflegekinder

Sieben Neuanfänge, das Jugendamt und ein Kind

Ein trauriges Mädchen sitzt auf einer Treppe.
Bindungsabbrüche beeinträchtigen die kindliche Entwicklung. © imago/Westend61
Von Johannes Nichelmann · 29.01.2018
Sara ist sieben Jahre alt, als sie zu Familie R. kommt. Da hat sie schon diverse Heime und Pflegefamilien hinter sich. Entstehende Bindungen wurden immer wieder gekappt. Wie können solche Bindungsabbrüche verhindert werden? Brauchen Pflegeeltern mehr Rechte?
"Das ist Dein Zimmer?"
Sara: "Also, das ist mein Bett hier, das ist schon seit, weiß ich nicht wie lange. Hatten wir sogar schon in der alten Wohnung. Dann hab ich hier ganz viele Poster. Dann die Blümchen sind neu und das ist halt der große Teddy, den hab ich damals von meiner Mutti geschenkt bekommen. Der muss immer da liegen!"
"Von Deiner leiblichen Mutti?"
Sara: "Ja. Das ist halt immer ... dann weiß ich halt, dass meine Mutti immer an meiner Seite dann trotzdem noch ist. Auch wenn wir, sage ich mal so, Scheißsachen so hinter uns hatten. Sag ich mal so."

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Saras erste Lebensjahre sind ohne feste Bindungen

Sara ist 20 Jahre alt. Sie macht gern Musik, liebt es, auf ihrem Smartphone Spiele zu spielen, und hat einen Hund, mit dem sie besonders gerne ihre Freizeit verbringt. Vor 13 Jahren ist sie als Pflegekind zu Solveig R. und ihrem Ehemann gekommen. Bis dahin hat Sara schon viele Bindungsabbrüche und Neuanfänge bei Pflegefamilien und in Kinderheimen erlebt.
In Deutschland leben derzeit schätzungsweise zwischen 60.000 und 70.000 Kinder in Pflegefamilien. Beinah jede zweite Unterbringung in Heimen und Pflegefamilien muss laut der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik ungeplant beendet werden. Biografien wie die von Sara sind keine Seltenheit. Immer wieder kommt es zu Bindungsabbrüchen, die für die Kinder fatale Folgen haben.
Sara: "Ich war ja noch ein ganz kleines Kind. Deswegen weiß ich eigentlich gar nichts mehr davon."
Frau R.: "Also geboren, klar, ist sie von ihrer leiblichen Mutter. Logisch. Erst wurde sie mit der Oma zusammen, also die Mutter lebte mit ihrer Mutter und Sara zusammen in einer Familie. Das ging nicht gut. Dann wurde entschieden, dass Mutter und Kind in eine Mutter-Kind-Gruppe gegangen sind, in ein Mutter-Kind-Heim. Dort hat sich die Mutter dann aber entschieden, eine eigene Wohnung zu nehmen, mit der Auflage, dann aber sich von Sara zu trennen, sodass Sara dann das erste Mal schon in eine Pflegefamilie kam.
Dort wieder herausgenommen wurde, in ein Kinderheim. Nochmal in eine Pflegefamilie vermittelt wurde, was wieder nicht gut ging. Zwischendurch war aber auch nochmal eine Bereitschaftspflege. Ich weiß gar nicht, wann genau. Insgesamt hatte sie, bevor wir uns kennengelernt haben, schon sieben Abbrüche in sieben Lebensjahren."
Eine Tortur. Solveig R. ist Therapeutin, arbeitet auch mit Pflege- und Heimkindern und lernt auf diesem Weg zufällig Sara kennen. Solveig R. und ihr Ehemann haben damals schon vier leibliche Kinder. Das Paar aus dem Süden Brandenburgs hat nie daran gedacht, noch ein fünftes Kind dauerhaft bei sich aufzunehmen.
Sara kommt zunächst an Wochenenden oder Feiertagen. Sie ist das Patenkind. Doch die damals sieben Jahre alte Sara wünscht sich nichts mehr, als ein vollwertiges Mitglied der Familie zu werden.
Sara: "Hab mich einfach hier wohlgefühlt in der Familie. Auch, wo ich die ganzen Wochenenden hier war. Ich wollte eigentlich gar nicht mehr ins Kinderheim zurück und so. Weil ich mir hier so wohlgefühlt hatte."
Frau R.: "Und ich hab Sara kennengelernt als kleines, ganz dünnes Mädchen, kurze Raspelhaare. Die Augen werde ich nie vergessen. Die Augen waren tot. Weiß nicht, ob Sie das kennen. So diesen Blick, wenn so gar nichts mehr drin ist. Kein Leben, keine Hoffnung. So habe ich Sara kennenglernt."

Bindungsabbrüche stören die kindliche Entwicklung gravierend

Solveig R. will wissen, bei wem Sara wann und wie lange gelebt hat. Recherchiert Namen, stellt den Kontakt zu den Erzieherinnen aus den Kinderheimen her, meldet sich bei vorherigen Pflegefamilien. Menschen, zu denen Sara im Laufe ihres Lebens eine intensive, wenn auch kurze, Bindung hatte. Biografie-Arbeit zur Aufarbeitung des Erlebten.
Frau R.: "Das hab ich auch in den Recherchen immer wieder mitbekommen. Von Leuten, die sich von Sara verabschieden mussten. Es war immer sehr abrupt und hinterher wurde den Leuten immer zu verstehen gegeben, sie dürfen nicht mehr wissen, wo Sara ist. Also es war dann nicht so, dass die diejenigen, auch wenn sie es wollten, Sara mal besuchen durften oder mal ein Lebenszeichen bekommen haben."
Wann immer Bezugspersonen von heute auf morgen verschwinden, geben sich die Kinder selbst die Schuld. Waren sie nicht artig genug? Ist etwas falsch mit ihnen? Sind sie es nicht wert geliebt zu werden?

Sara: "Ich hatte ja bis vor kurzem, bis vor ein paar Jahren, immer noch Angst, dass ich wieder aus dieser Familie raus muss. Wo ich jetzt immer noch ein bisschen Angst habe, aber fast weg ist die ganze Angst. Dadurch, dass man halt früher immer weggegeben wurde, ist halt die Angst immer noch da."

Ein Rucksack voller Vorgeschichte wird ausgepackt

In der Kinder- und Jugendhilfe spielt die Bindungstheorie eine herausragende Rolle. Sie ist empirisch gut abgesichert, zeigt, wie wichtig Bezugspersonen für Kinder sind und was passiert, wenn diese fehlen.
Frau R.: "Dieses Gefühl zu haben, was ist eine gesunde Beziehung? Nähe, Distanz, Vertrauen - aber auch mal Schimpfen, wie jede Mutter mal mit ihrem Kind schimpft, heißt nicht, dass ich sie nicht mehr liebhabe. Dann kommen, jetzt ein bisschen weniger, aber vor ein, zwei Jahren war es noch gang und gäbe, dass dann gleich kam 'na, dann gebt mich doch gleich weg und lasst mich doch in Ruhe!' und also immer gleich so dieses Radikale an Lösungen und das steckt so tief in ihr drin.
Dazu kommt eben auch dieser massive Wunsch nach Kontrolle. Alles kontrollieren zu wollen. Überall dabei zu sein, also ich stelle mir das auch anstrengend vor. Alles, alles unter Kontrolle haben zu müssen, weil dieses Urvertrauen fehlt, ne. Mama, wo gehst Du denn hin und wann kommst Du wieder? Es gab eine Zeit, da hat sie dann schon draußen am Fenster oder draußen an der Säule gehangen, weil ich fünf Minuten später da war. Zwischendurch kamen drei Anrufe. Mama, wann kommst Du? Kommst Du wirklich? Oder es ist bis heute so, dass ich ihr Zimmer nach wie vor, dass ich ihr sage: Sara, Du hast Dein Zimmer. Du hast immer Dein Zimmer!"
Sara: "Meistens sammelt sich ja die ganze Wut an und wenn Mama irgendwas sagt, was ich dann ganz und gar nicht mag, kommt vor allem raus. Dann sag ich irgendwelche Sachen, die ich am Ende bereue."

Pflegeltern müssen das Vorleben des Kindes kennen

Sara gilt schon früh als äußerst schwieriges Kind. Sie kann keine Nähe zulassen, schmeißt Gegenstände durch die Zimmer, hat Probleme, Regeln oder Normen einzuhalten. Gerade wen sie besonders mag, stößt sie aus Selbstschutz von sich ab. Die Erzieherinnen im Heim sind lange Zeit ratlos.
Als Sara zu Pflegeeltern kommt, sind diese überfordert und geben das Mädchen wieder zurück. Immer wenn Sara schwierig wird, muss sie ihre Koffer packen. Solveig R. weiß, worauf sie sich einlässt, da sie als Therapeutin mit Sara gearbeitet hat und ihre Vorgeschichte kennt.
Frau R.: "Aber ich weiß, dass die Pflegefamilie vorher nichts wusste. Die haben gedacht, sie kriegen einfach mal ein liebes, niedliches Mädchen aus dem Kinderheim. Ich weiß auch, dadurch dass ich ja beruflich auch in diesem Kontext arbeite, dass das eher die Norm anstatt die Ausnahme ist, dass Pflegeeltern nicht wissen, was in der Geschichte passiert ist und was auf sie ansatzweise zukommen könnte und ich finde, das ist fatal, nicht zu wissen, dass eben nicht das liebe, dankbare kleine Kind kommt, sondern ein Kind mit einer Vorgeschichte, mit einem riesen Rucksack, den es dann, wenn es sich einmal zu Hause fühlt, auspackt."
Sie kreidet es dem "System Jugendamt" an, dass Pflegeltern ihrer Erfahrung nach oft nicht richtig informiert werden und somit erneute Bindungsabbrüche vorprogrammiert sind. In einer für Kinder ohnehin unerträglichen Situation, wenn sie von ihren leiblichen Eltern oder anderen Bezugspersonen getrennt werden.
Frau R.: "Es könnte ja passieren, dass es keine Pflegefamilien mehr gibt. Ich glaube, das ist ein riesen Dilemma!"

Jugendämter: Anwälte des Staates

Die Jugendämter nehmen immer mehr Kinder und Jugendliche in Obhut. Im Jahr 2016 wurden über 80.000 dieser Schutzmaßnahmen registriert – das sind doppelt so viele wie noch im Jahr 2013. Diese Zunahme erklärt sich zum Teil durch die vielen minderjährigen Geflüchteten. Bei den unter 14-Jährigen aber ist es vor allem die Überforderung der Eltern, die Ämter immer öfter dazu bringt, die Kinder aus den Familien zu nehmen.
Monique Rex: "Wir sind Anwälte des Staates. Also wir haben den gesetzlichen Auftrag sozusagen, den staatlichen Auftrag zu verfolgen. Das heißt in erster Linie Wächteramt. Sozusagen über die Kinderrechte, über das Kindeswohl."
Monique Rex arbeitet im Jugendamt des Landkreises Bautzen im östlichen Sachsen. Sie sagt, dass es einen Paradigmenwechsel gegeben habe. Pflegeeltern würden hier in Bautzen inzwischen sehr genau erfahren, welche Vorgeschichte die Mädchen und Jungen haben. In anonymisierter Form werde vor der Übernahme alles von Relevanz geschildert, damit sich die Familien für oder gegen das Kind entscheiden könnten.
Monique Rex: "Dass genau die Pflegeeltern dann nicht bei uns in der Tür stehen und sagen: Wir schaffen es nicht mehr, das Kind muss raus. Dann ist es natürlich so, dass ist ein ganz normaler Prozess, ist ja psychologisch auch begründbar, dass Pflegeeltern sich auch untereinander austauschen und dass uns dann auch keine andere Pflegefamilie das Kind dann abnimmt und das bedeutet im Zweifel dann tatsächlich Heimunterbringung. Wenn ein Kind wieder einen Bindungsabbruch erlebt hat, wird es unter Umständen aufgrund der Verhaltensthematik im Heim dann auch auffällig werden und möglicherweise kommt dann der Heimträger auf uns zu und sagt, es ist auch in meinem Heim nicht mehr zu gewährleisten, liebes Jugendamt, nehmt uns bitte das Kind auch hier wieder heraus und dann kommt es sozusagen zu so einer Kettenreaktion."
Häufige und schmerzhafte Bindungsabbrüche sollen so vermieden werden.
Monique Rex: "Das ist ein Credo, dass das nicht stattfinden sollte. Ich mach das jetzt mal an dem 'sollte' fest. Wir müssen aber auch gestehen, dass es auch mal notwendig wird, dass wir sagen müssen, ja, das Kind muss raus und muss in eine Heimunterbringung untergebracht werden. Das ist durchaus möglich. Aber wir wollen es von vorneherein grundlegend vermeiden."
Dazu gehört für Monique Rex auch die enge Zusammenarbeit mit den Herkunftseltern. Sie sollen nicht aus dem Leben der Kinder verschwinden. Dirk Schäfer ist Mitglied der "Forschungsgruppe Pflegekinder" an der Uni Siegen. In seinen Untersuchungen hat er allerdings festgestellt, dass es häufig an dieser für das Kindeswohl oft notwendigen Zusammenarbeit mangelt.
Dirk Schäfer: "Wir haben Interviews mit ehemaligen Pflegekindern geführt, die uns beschrieben haben, dass sie manchmal das Gefühl hatten, als wenn sie das tun müssten, sich für eine Seite zu entscheiden. Aber wir haben auch den Hinweis bekommen, dass einige das Gefühl hatten, wir konnten diese Entscheidung gar nicht treffen, sondern andere treffen diese Entscheidung für uns. Zum Beispiel von Seiten der Behörde viel dafür getan wird, dass die Beheimatung nur in einer Familie möglich ist und die andere Familie quasi aufgrund fehlender Zusammenarbeit aus dem Blick verloren wird und dann auch keine Rolle mehr für das Kind spielen kann."
Über all das sollten auch Herkunftseltern sprechen. Niemand wollte sich vor dem Mikrofon äußern. Der Grund sind schwebende Verfahren und die Angst der Eltern, ihre Kinder nicht zurückzubekommen, sollten sie etwas sagen, was beteiligte Behörden oder Personen für falsch halten. Das Thema ist ein heißes Eisen in Deutschland.

Mehr Rechte für Pflegeeltern?

Seit vielen Jahren wird eine Debatte geführt, in der es darum geht, ob der Gesetzgeber die Herkunftsfamilien oder die Pflegefamilien stärken soll.
Dirk Schäfer: "Und dabei wird das Pflegekind nicht in erster Linie in Blick genommen. D.h. man diskutiert um die beiden Familien, die um dieses Kind herumstehen, aber nicht um das Kind selbst."
Eine Ursache dafür liegt im Grundgesetz. Die Juristen unterscheiden zwischen "rechtlichen Familien", den sogenannten Herkunftseltern und "faktischen Familien", wie Stief- oder Pflegefamilien. Der Münchner Professor Michael Coester ist Rechtswissenschaftler und Vorsitzender der Kinderrechtekommission beim Deutschen Familiengerichtstag.
Michael Coester: "Traditionell steht das Elternrecht im Vordergrund und die Kindesrechte haben erst langsam ihren Weg in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und des Gesetzgebers gefunden. Davon ist auch noch die gesetzliche Regelung geprägt, wenn es um Pflegekinder geht. Da finden wir halt in Paragraph 1630, Absatz 3, dass die Pflegeeltern Rechte zur Erziehung des Kindes über die bloße Pflege hinaus nur haben, wenn die Eltern das beantragen oder damit einverstanden sind."
Für die leiblichen Eltern gibt es rechtlich keine Konkurrenz. Das Gericht entscheidet nur gegen sie, wenn das Kindeswohl akut gefährdet ist. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes legten Wert darauf, dass Pflegeeltern die leiblichen Eltern niemals ersetzen werden können.
Michael Coester: "Als Folge dessen, was in der Nazi-Zeit mit den Familien geschehen ist. Das muss man auch mal so aus der Entwicklung des Rechtes verstehen. Diese grauenhaften Vorgänge aus der Nazi-Zeit, die wollte man nie wieder sehen in Deutschland und hat deshalb die Position der Familie und der Eltern gegenüber irgendwelchen öffentlichen und staatlichen Instanzen sehr, sehr betont im Grundgesetz, und davon runterzukommen, ist schwierig.
Man möchte ja nun andererseits auch die elterliche Rolle nicht abbauen unbedingt. Man möchte nur den anderen Möglichkeiten des Kindesaufwachsens mehr Spielraum geben und mehr Möglichkeiten eröffnen. Nicht gegen das Elternrecht, sondern gewissermaßen parallel zum Elternrecht."

Die politische Debatte ist festgefahren

"Anderen Möglichkeiten Spielraum geben", häufige Bindungsabbrüche vermeiden, Pflegeeltern stärken, darum geht es auch der SPD. Eineinhalb Jahre lang wurden dem Bundestag immer wieder Entwürfe zu einer Reform vorgelegt.
Petra Pau, Bundestagsvizepräsidentin: "Punkt acht. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfs zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen."
Berlin im Mai 2017. Der Plenarsaal des Deutschen Bundestags ist spärlich besetzt. Es ist kurz vor Mitternacht. Diskutiert wird ein weitreichender Reformvorschlag des "Sozialgesetzbuchs VIII" – darin wird seit über 25 Jahren die Kinder- und Jugendhilfe geregelt. Die Parlamentarische Staatssekretärin des Bundesfamilienministeriums, Caren Marks, tritt an das Rednerpult und erklärt, was sich ändern soll.
Caren Marks: "Mit der Reform des SGB VIII wollen wir regeln, dass über die Perspektive eines Pflegeverhältnisses schneller und vor allem transparenter entschieden wird. Soll das Kind nur vorübergehend oder dauerhaft in der Pflegefamilie bleiben? Welche Unterstützung brauchen Pflegekind, Pflegeeltern und auch Herkunftsfamilie? Ein Kind aus der Familie zu nehmen ist und bleibt das letzte Mittel."
Zudem sollen Familiengerichte künftig anordnen können, dass ein Kind in der Pflegefamilie bleibt, wenn ziemlich sicher ist, dass es nicht in die Herkunftsfamilie zurückkehren kann.
Caren Marks: "Kinder, die beispielswiese von ihren Eltern schwer misshandelt wurden, müssen die Chance haben, in der Pflegefamilie zu bleiben, anstatt zurückzumüssen und zu erleben, dass die Misshandlungen wieder losgehen."
Innerhalb der SPD-Fraktion gab es Beschwerden, wonach das Bundesfamilienministerium, damals unter Führung der Sozialdemokratin Manuela Schwesig, sie kaum eingebunden habe. Informationen hätten sie vor allem aus dem Internet bezogen. Mangelnde Transparenz werfen auch die Linken und Grünen dem Ministerium vor. Sie lehnen das Reformpaket ab, beziehen sich dabei vor allem auf andere strittige Punkte, die nicht direkt die Situation der Pflegekinder betreffen.
Auch der familienpolitische Sprecher der Union, CDU-Mann Marcus Weinberg, richtet sich deutlich gegen den Vorschlag, die Rechtslage zugunsten von Pflegeeltern zu verändern.
Marcus Weinberg: "Wir verstehen, dass sehr viele Pflegeeltern sagen, wir haben die Nase voll auf Deutsch gesagt, von diesem Befristungsdogma. Dass man nicht weiß, nach einem, zwei, drei Jahren, was passiert denn mit der Bindung, mit den Pflegekindern? Wir wollen auch dauerhaft irgendwie Stabilität haben. Das verstehen wir. Aber es wäre im höchsten Maße gefährlich, dass dieses abgelöst wird durch ein sogenanntes Kontinuitätsdogma. Da haben wir große Sorge, dass wir dann das erleben, was wir sehr häufig erlebt haben in den letzten Jahren.
Dass Menschen zu uns gekommen sind, sie haben uns gesagt, sie kommen nicht mehr an die Kinder ran. Sie wollen eigentlich nur eine Kurzzeitpflege, weil sie überfordert waren, kurzfristig. In der Situation. Ein halbes Jahr, ein Jahr. Und diese Eltern kommen in Teilen nicht mehr an ihre Kinder, beziehungsweise die Kinder kommen nicht mehr zurück."
Dennoch: das Gesetz wurde im Juni 2017 vom Bundestag angenommen – scheiterte aber mehrfach vor dem Bundesrat. Hier gab es bislang über 50 verschiedene Änderungsanträge. Ein Streitpunkt ist auch die Kostenfrage. Viele Kommunen fürchten höhere Ausgaben. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Marcus Weinberg ist froh, dass das Gesetz gescheitert ist:
"Es gibt kein Schwarz-Weiß, sondern es gibt nur eine Grauzone. Ich habe Fälle erlebt hier in Hamburg, ich komme aus Hamburg, dort ist das Kind in der Herkunftsfamilie totgeschlagen worden und ist zu früh zurückgekehrt aus der Pflegefamilie in die Herkunftsfamilie. Das war ein Fehler.
Das hätte nicht passieren dürfen. Das Kind ist tot. Wir haben auch erlebt hier in Hamburg, ein Kind, dass in der Pflegefamilie zu Tode gekommen ist. Es ist nicht klar erkennbar, das eine ist das gute System oder die gute Familie, das andere die schlechte Familie. Deswegen müssen wir den Einzelfall betrachten."

Entwicklungsperspektive des Kindes abwägen

Markus Weinberg hält die Gesetzgebung dennoch für reformwürdig. Er will mehr Zeit, mehr Forschung und mehr Anhörungen von Sachverständigen durchsetzen, um dann einen neuen Anlauf zu wagen. Einer, der vor allem Herkunftseltern mehr Möglichkeiten geben soll, Hilfe zu erhalten, um ein Zusammenleben im Sinne des Kindes gestalten zu können.
Marcus Weinberg: "Ich halte viel vom Begriff ‚soziale Eltern‘ und ‚soziale Elternschaft‘, aber ich glaube und das wissen wir auch empirisch bewiesen, dass die Bindung zu leiblichen Eltern schon eine immense Rolle spielt."
"In der Realität geht der sogenannte Schutz der Familie aber oft am Interesse der Kinder vorbei" – sagt Melanie Leonhard. Sie ist Hamburgs Sozialsenatorin.
Melanie Leonhard: "Wir wollen nur, dass ein paar mehr Abwägungstatbestände im Gesetz festgeschrieben werden."
Die SPD-Politikerin gehört zu einer Gruppe von Landesministerinnen, die vor einiger Zeit mit einem Reformwunsch an das Ministerium in Berlin herangetreten sind. Die Senatorin fordert: Pflegeeltern sollten vor dem Familiengericht ein Recht bekommen angehört zu werden. Bislang liegt das im Ermessen der Richterinnen und Richter.
Außerdem forderte sie bei Dauerpflegeverhältnissen eine Frist von zwei Jahren, innerhalb der die Familiengerichte klären sollten, welche Perspektive für die Kinder die Richtige sei: die Rückführung zu den leiblichen Eltern oder aber der Verbleib bei den Pflegeeltern.
Melanie Leonhard: "Wir brauchen die Verpflichtung im Familiengerichtlichen Verfahren die Entwicklungsperspektive des Kindes abzuwägen. Anders wird man in diesem Thema nicht vorankommen. Ich halte das für extrem bedeutsam, nicht nur vor dem Hintergrund der Bindungswissenschaft, die ja da auch viel weitergekommen ist als noch vor 30 Jahren. Sondern vor allem vor dem Hintergrund, dass wir ja generell finden, Kinderrechte sollten zum Beispiel im Grundgesetz verankert werden. Wenn das so wäre, hätten wir schon wieder ganz andere Abwägungstatbestände in familiengerichtlichen Verfahren."
Auch Melanie Leonhards CDU-Kollege Marcus Weinberg sieht Handlungsbedarf an den Familiengerichten.
Marcus Weinberg: "Also, wenn Sie Insolvenzrichter sind, dann haben Sie durchaus eine qualifizierte Weiterbildung und bei Familienrichtern ist das in dieser Form nicht zwingend und da würden wir uns wünschen, dass Familienrichter eine breitere Weiterbildung machen müssen. Wir würden uns wünschen, dass wir das Gutachterwesen verbessern. Teilweise haben wir Urteile des Gerichtes aufgrund eines Gutachtens."

Vor der Entscheidung: Alle Aufklärungsmöglichkeiten nutzen

Pflegeeltern und leibliche Eltern ließ vor kurzem ein Fall besonders aufhorchen: Ein Mädchen wurde wenige Monate nach der Geburt wegen des Verdachts auf Kindesmissbrauch vom Jugendamt in Obhut genommen. Eineinhalb Jahre lange lebte es bei Pflegefamilien. Die leiblichen Eltern wollten dem Familiengericht glauben machen, dass sie sich inzwischen in der Lage sähen, das Kind wieder bei sich aufzunehmen. Der Alkoholkonsum des Vaters sei zurückgegangen.
Den Richtern hat das nicht gereicht. In der nächsten Instanz allerdings hat das Oberlandesgericht den Eltern Glauben geschenkt. Jedoch haben sich die Richter hier weder mit sachverständigen Gutachten, noch mit den Vertretern des Kindes auseinandergesetzt. Der Fall ging vor das Bundesverfassungsgericht. Rechtswissenschaftler Michael Coester:
Michael Coester: "Da hat das Bundesverfassungsgericht jetzt gesagt, man kann das Gericht nicht verpflichten, richtig zu entscheiden, weil das niemand definieren kann, was richtig ist. Aber man kann das Gericht verpflichten, alle auch nur denkbaren Aufklärungs- und Abklärungsmomente auszunutzen, um dann die bestmögliche, wenn auch immer nicht perfekte, die bestmögliche Entscheidung für das Kind zu treffen. Das war in dem gegebenen Fall nicht der Fall. Das war nur guter Wille und gute Hoffnung des Oberlandesgerichts und das reicht nicht."
Heißt das, dass die aktuellen Gesetze doch genügen, um das Kindeswohl durchzusetzen? Der Sozialpädagoge und Sozialwissenschaftler Dirk Schäfer:
Dirk Schäfer: "Ich glaube, es wäre sehr notwendig diese Debatte zu überwinden und nicht mehr darüber nachzudenken, machen wir das eine oder das andere. Also quasi dogmatisch, sondern, dass wir uns auf den Weg machen im Einzelfall wirklich danach zu schauen, was braucht dieses eine Kind und was können wir mit den beiden dazugehörigen Familien eigentlich gut gestalten? Das ist eigentlich auch der gesetzliche Auftrag, der der sozialen Arbeit gestellt wird. D.h. mein Eindruck ist, wir brauchen nicht wahnsinnig viele neue Gesetze für dieses Thema, sondern wir müssen die bestehenden Gesetze, die wir haben, endlich anfangen besser umzusetzen."

Paradigmenwechsel: Kinder dürfen um Beziehungsbrüche trauern

Martina Tietjen: "Wenn die Kinder zu uns kommen, erzählen wir im Grunde, Ihr macht jetzt hier mal ein bisschen Urlaub und wir gucken mal, dass wir Euch eine schöne Zeit machen können."
Bremen. Martina Tietjen hat in den letzten vier Jahren über 20 Kinder bei sich aufgenommen. Sie ist Pflegemutter in der Übergangspflege. Zu ihr kommen Kinder, wenn sie schnell einen geschützten Ort brauchen. Sie werden sozusagen "zwischengeparkt", bevor die Ämter wissen, wie es weitergehen soll: Rückkehr in die Herkunftsfamilie oder doch eine Vollzeitpflege.
Martina Tietjen: "Die ersten Tage bestehen im Grunde genommen aus Kennenlernen. Ist anstrengend, keine Frage, für alle Beteiligten. Aber die sind ja im Endeffekt noch so klein. Das geht schnell. So, sie finden sich auch ganz schnell. Als jetzt die Kleine gebracht worden ist, die erste Nacht ganz viel hat sie geweint, dann haben wir versucht, uns dazuzulegen und sie zu trösten und innerhalb von einer Woche ist sie angekommen eigentlich."
Im Auftrag der Stadt Bremen koordiniert das gemeinnützige Unternehmen "PIB - Pflegekinder in Bremen" die Übergangspflege. Eigentlich sollen Kinder und Jugendliche nur sechs bis zwölf Wochen bei Übergangspflegeeltern bleiben, sagt Mitarbeiterin Janine Habbe.
Janine Habbe: "In Wirklichkeit dauert es doch wesentlich länger. Diese Hilfeplanungsprozesse, Perspektivplanungsprozesse für die Kinder dauern oft so lange, dass die Kinder auch durchaus auch mal ein Jahr in der Übergangspflegestelle sind."
Ein Jahr, in dem sich die Kinder an die Pflegeeltern gewöhnen, Bindungen aufbauen. Hier habe es einen Paradigmenwechsel gegeben.
Janine Habbe: "Früher hat man öfter mal gesagt, ja, dann sollen die Kinder sich in der Übergangspflegestelle gar nicht so sehr binden. Also so früher, meine ich jetzt so vor 15 Jahren. Man soll immer ein Stückchen Distanz zu den Kindern halten, damit die Kinder sich eben nicht binden und die Trennung nicht so schwer wird. Die Kinder sollen nicht weinen, möglichst, das war so ein bisschen früher der Ansatz. Wir gehen inzwischen davon aus, dass Kinder trauern müssen, wenn Beziehungen für sie unterbrochen oder beendet werden. Das zu unterstützen und da dran zu bleiben, dass die Kinder da den Raum für bekommen, das finde ich ganz wichtig."
Um das Urvertrauen der Kinder nicht mehr zu belasten als nötig, probiert man in Bremen seit gut einem Jahr ein neues Verfahren aus. Die sogenannte An- und Abbahnung. Soll ein Kind nach der Übergangspflege in eine Vollzeitpflege kommen, so lernt es die neuen Eltern nach und nach bei persönlichen Treffen kennen. Gleichzeitig soll der Kontakt nach dem Umzug nicht abbrechen – das Kind wird die Übergangspflegeeltern weiterhin treffen.
Janine Habbe: "Einige Male wenigstens, damit das Kind sehen kann: Ah, die gibt es noch, die sind noch da, die sind nicht einfach plötzlich verschwunden, weil das wäre bei einem kleinen Kind so gefühlt. Sondern die sind noch da, die kann ich treffen auf dem Spielplatz, die existieren für mich weiterhin noch."
Ein Prozess, den Übergangspflegemutter Martina Tietjen schon einmal mitgemacht hat. Aber auch ein Abschied auf Raten kann wehtun.
Martina Tietjen: "Das war für uns ganz schrecklich. Nicht nur für uns, sondern auch für die neuen Eltern und auch für das kleine Mädchen. Aber bei dem, was halt hinterher rausgekommen ist, dass wir uns heute noch treffen können, regelmäßig sehen, die Kleine zu ihren neuen Eltern sagt: Ich möchte zu Tina und Ingo und dann kommen sie zu uns und dann machen wir ein Date. Sie will jetzt auch schon wieder bei uns schlafen. Jetzt bin ich Patentante. Es hat sich gelohnt."
Hier in Bremen wird zudem besonders darauf geachtet, dass wichtige Alltagsstrukturen erhalten bleiben. Nach Möglichkeit soll ein Wechsel von Kindergarten oder Schule verhindert werden. Am Wichtigsten aber ist: der Kontakt zu den leiblichen Eltern soll nicht abreißen. Janine Habbe:
Janine Habbe: "Da ist es oft leichter, wenn die Kinder dann gemerkt haben, nach einigen Wochen, ah, aber ich sehe meine Eltern ja jede Woche wieder. Das kann man Sechs- oder Siebenjährigen schon ganz gut erklären. Aber kleinere Kinder müssen das erfahren. Ich sehe Mama immer wieder. Da ist es oft auch nicht mehr so schwer nach drei Wochen, weil sie sich jetzt ein paar Mal gesehen haben in dieser Zeit."
Martina Tietjen: "Mit der aktuell Kleinen legen wir Duplo-Steine, also nach dem letzten Besuchskontakt kommen dann wieder sechs Duplo-Steine und dann nimmt sie jeden morgen einen weg und weiß, heute gehe ich wieder zu Mama. Holst Du mich heute früher aus der Kita? Ja, ich hole Dich heute früher aus der Kita, wir fahren nachher zu Mama und sie freut sich. Ja, es gehört halt dazu und die Eltern gehören zu diesem Kind. Und das soll auch so sein."
Das Konzept der Bremer ist für viele in Deutschland ein Vorbild. Doch auch hier müssen alle mit dem Dilemma leben, dass sich in der Kinder- und Jugendhilfe nichts verallgemeinern lässt. Jeder Fall ist anders. Und jedes Kind ist anders. Die Aufgabe der Politik ist es dennoch allgemeingültige Rahmenbedingungen zu setzen. Es wird ihr besser gelingen, wenn sie sich von Dogmen verabschiedet und einzig das Interesse des Kindes in den Mittelpunkt stellt. Und sich nicht davon leiten lässt, dass hinter der Kinder- und Jugendhilfe auch ein Milliardengeschäft steht.

Sara wünscht sich Eigenständigkeit und eine gute Beziehung

Zurück im Süden Brandenburgs. In der Küche von Sara R. und ihrer Pflegefamilie hängt ein Bild, das sie ihrer Pflegemutter vor Jahren geschenkt hat. Eine liebevoll mit Filzstiften gemalte Kinderzeichnung. Darauf ein Gedicht.
Sara: "Du bist mein Sternchen, alles Gute zum Muttertag! Alle Blumen blühen heute nur für Dich! Liebste Mami, ich und alle Leute denken nur an Dich. Ich hab Dich so lieb."
Frau R.: "Also das hat sie, wenn sie auch nicht sagen konnte, damals, dass sie mich lieb hat oder so aber sie hat viel in Bilder gesteckt oder in Briefe gesteckt und hat so ihre Art gefunden, mir das zu sagen."
Der Kontakt von Sara zu ihrer leiblichen Mutter ist momentan nicht besonders gut. Das schmerzt. Sara hat inzwischen einen wichtigen Schritt gemacht: ist aus ihrem Pflegeelternhaus ausgezogen, macht eine Lehre zur Gärtnerin in Sachsen-Anhalt. Dort lebt sie in einer betreuten Wohngemeinschaft. Sie hofft, bald das ganz normale Leben einer jungen erwachsenen Frau führen zu können.
Sara: "Dass man selbstständig in der eigenen Wohnung sein kann. Ohne, dass man Betreuer oder so was braucht und das man halt mit Geld umgehen kann und dass man auch eine ordentliche und gute Beziehung führen kann und ja ..."
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