Judenfeindlichkeit in Deutschland

Wie hoffähig ist Antisemitismus?

Ein Hakenkreuz und ein durchgestrichener Davidstern sind am 09.06.2013 an einer Gedenkstätte am Nordbahnhof in Berlin zu sehen.
Ein Hakenkreuz und ein durchgestrichener Davidstern waren 2013 an einer Gedenkstätte in Berlin zu sehen. © picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt
Moderation: Marcus Pindur · 26.08.2017
Antisemitismus sei "in Deutschland in vielen Bereichen viel offener geworden, als vor einigen Jahren", sagt Deirdre Berger, Direktorin des American Jewish Committee in Berlin. Gerade unter Geflüchteten gebe es ein "vergleichsweise hohes Maß an antisemitischen Einstellungen".
Deutschlandfunk Kultur: Heute zu Gast ist Deirdre Berger. Sie ist Direktorin des American Jewish Committee in Berlin und das schon seit nunmehr 17 Jahren. Guten Tag, Frau Berger.
Deirdre Berger: Guten Tag.
Deutschlandfunk Kultur: Frau Berger, in der vergangenen Woche wurde in Frankfurt am Main eine groß angelegte Studie veröffentlicht, die sich mit Antisemitismus in Deutschland befasst, und zwar aus der Sicht deutscher Juden, die zu ihren Erfahrungen befragt wurden. Dabei stellte sich heraus, dass drei Viertel aller Befragten Judenfeindlichkeit als großes Problem wahrnehmen. 62 Prozent gaben an, in den vergangen zwölf Monaten Antisemitismus in Form versteckter Andeutungen erlebt zu haben. 29 Prozent gaben an, beleidigt oder belästigt worden zu sein. Und drei Prozent erklärten sogar, sie seien körperlich angegriffen worden.

Antisemitismus ist viel offener geworden

Ist Antisemitismus Ihrer Ansicht nach in Deutschland wieder hoffähig geworden?
Deirdre Berger: Ich würde sagen, dass Antisemitismus in Deutschland in vielen Bereichen viel offener geworden ist, das bestimmt, als vor einigen Jahren. Wissen Sie, seit Beginn der zweiten Intifada am Anfang dieses Jahrhunderts gibt’s europaweit leider einen sehr deutlichen Trend zu mehr Antisemitismus in mehreren europäischen Ländern. Die Auseinandersetzungen sind zwar insgesamt weniger gewalttätig in Deutschland, trotzdem ist es Teil des Alltags geworden in vielen Bereichen – auf dem Sportfeld, in Schulen, im Kulturbereich, in Musik, in vielen Bereichen, wo man das vielleicht ansonsten nicht merkt. Aber für diejenigen, die bewusst jüdisch leben hier in Deutschland, ist es leider sehr gegenwärtig und sehr präsent.
Deutschlandfunk Kultur: Sie sagen, es ist sehr gegenwärtig. Gleichzeitig sagt aber diese Studie dann auch wieder, was ein bisschen paradox erscheint, dass sich 75 Prozent der hier lebenden Juden in Deutschland wohl fühlen. – Wie passt das Ihrer Ansicht nach zusammen?

Starke Zivilgesellschaft

Deirdre Berger: Das passt zusammen, weil, es gibt das Problem Antisemitismus, es gibt aber auch eine sehr starke Reaktion von der Gesellschaft dazu. Das ist sehr wichtig für das Wohlfühlen natürlich von der jüdischen Gemeinde.
Es gibt in Deutschland mehr als in jedem anderen Land in Europa eine sehr starke Zivilgesellschaft, Gruppen, Organisationen, die gegen Antisemitismus Profil zeigen, Stellung nehmen, auch ein großes Interesse am Judentum, an Israel haben. Insgesamt ist es eine Gesellschaft, wo man sich schon sehr wohlfühlen kann.
Deutschlandfunk Kultur: Kommen wir zu einem Thema, das die gesamte Gesellschaft in den letzten zwei Jahren sehr beschäftigt in Deutschland. Siebzig Prozent der befragten in Deutschland lebenden Juden sagen, dass sie befürchten, dass der Antisemitismus hier zunehmen wird, weil viele Flüchtlinge antijüdische Einstellungen hätten. – Teilen Sie diese Befürchtung?
Deirdre Berger: Wir müssen erst sehen, dass die Hauptzahl von diesen Flüchtlingen aus Ländern kommen, wo Antisemitismus Teil der Staatsideologie ist. Das kann man nicht übersehen. Das gesagt, ist wichtig zu verstehen, "die" Flüchtlinge gibt es nicht. Es gibt natürlich eine Vielfalt an Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, die unterschiedliche ethnische, religiöse Hintergründe haben. Und es gibt schon Unterschiede in der Einstellung zu Juden. Und dass ein Problem auf uns zukommen könnte, scheint vielen sehr klar zu sein.

Situation im arabischen Raum

Deutschlandfunk Kultur: Der Politikwissenschaftler Bassam Tibi ist da offensichtlich sehr viel pessimistischer, als Sie das sind. Er hat gesagt, dass 99 Prozent der Flüchtlinge aus dem arabischen Raum zumindest antisemitische Einstellungen haben, denn er selber habe diese Erfahrung gemacht, als er in den 60er Jahren nach Deutschland gekommen sei. Er sei eigentlich erst durch das Studium von Hannah Arendt und Theodor Adorno dann zu einem anderen Blick auf die Dinge gekommen.
Ist jetzt diese Einstellung realistisch oder ist sie übertrieben? Darf man so pauschalisieren? Und wie geht man damit um?
Deirdre Berger: Es gibt Studien, die zeigen in der Tat, dass weit über neunzig Prozent von Menschen in arabischen Ländern antisemitisch eingestellt sind. Andererseits zeigen die ersten Ergebnisse, die wir mit kleineren Studien hier in Deutschland haben, nicht solche großen Zahlen. Die Hanns-Seidel-Stiftung hat Flüchtlinge in Bayern neulich befragt. Über die Hälfte der Flüchtlinge aus Syrien, Irak und Afghanistan meinen, dass Juden zu viel Einfluss haben, aber nicht 95 Prozent.
Es gab auch eine Studie von der Expertenkommission des Deutschen Bundestags. Die zeigte, dass es schon ein vergleichsweise hohes Maß an antisemitischen Einstellungen und große Wissenslücken unter Geflüchteten gibt. Nichtsdestotrotz sind nicht alle so.
Wir wissen zum Beispiel, dass die Kurden eine sehr große Affinität zu Israel haben. Es gibt erste Anzeichen, dass da der Antisemitismus viel niedriger ist. Geflüchtete aus Eritrea zum Beispiel scheinen bislang sehr wenig antisemitische Einstellungen zu haben. Wir müssen ein bisschen aufpassen, wie wir die Geflüchteten einschätzen.
Deutschlandfunk Kultur: Bleibt die Frage immer noch: Wie geht man denn damit um? Um ein Beispiel zu nennen, wir haben vor einer Woche ein Interview im Deutschlandfunk Kultur mit einem syrischstämmigen Rapper geführt. Er boykottiert das Popkulturfestival in Berlin, und zwar mit der Begründung, dass die israelische Botschaft zu den Sponsoren gehört. Er lebt in Deutschland und er sagte wörtlich: "Mit der deutschen Schuld habe ich nichts zu tun." – Was sagen Sie einem solchen jungen Mann?
Deirdre Berger: Jeder, der in einer Demokratie lebt, hat etwas mit der Geschichte zu tun. Man kann das nicht einfach so ablehnen. Das geht nicht über Blut, aber über eine Bindung an eine demokratische Gesellschaft und an die Grundwerte. Man kann doch nicht die Vorteile von einer Demokratie genießen und sagen, aber die Geschichte und die Konsequenzen davon lehne ich ab. – So geht es nicht.

Problemlagen der Israelkritik

Deutschlandfunk Kultur: Dieser Boykott schließt sich an an eine Bewegung, die sich abgekürzt BDS nennt und dazu auffordert, Israel generell zu boykottieren. – Können Sie vielleicht kurz charakterisieren, was BDS ist? BDS wird von vielen als antisemitisch bezeichnet. Würden Sie das auch sagen?
Deirdre Berger: BDS ist eine weltweite Bewegung. Sie steht für Boykott, Divestment und Sanktionen – BDS. Das ist ein Appell an viele in der westlichen Welt und woanders, Israel und seine Wahlen zu boykottieren, solange Israel alle besetzten und umstrittenen Gebiete nicht abgibt.
Das Problem mit dieser Bewegung ist, dass es Israel als allein verantwortlich für einen Konflikt macht zu einem Zeitpunkt, wo in der ganzen arabischen Welt bislang nur Jordanien und Ägypten Israels Existenz überhaupt anerkannt haben. Die Palästinenser, die PLO hat immer noch in ihrer Charta, dass Israel kein Existenzrecht hat.
Solange Israel gar kein Existenzrecht hat, kann man nicht so mit einem Streit umgehen. Und sehr oft sind leider Grenzen überschritten in der Diskussion über Israelkritik und Israelpolitik direkt hin zu antisemitischen Stereotypen.

Kritik der BDS-Kampagne oft antisemitisch geprägt

Deutschlandfunk Kultur: Das heißt also, es geht weniger um die Auseinandersetzung mit einer konkreten politischen Frage der internationalen Politik, als um diese generelle und pauschalisierte Ausgrenzung.
Deirdre Berger: Genau. Die Gründer der BDS-Bewegung haben sehr deutlich gesagt, dass sie das Existenzrecht Israels als jüdischem Staat gar nicht akzeptieren. Von daher wissen wir, dass es keine Projektion ist. Die sagen das selber. Eine Bewegung, die ein Existenzrecht eines anderen Landes bestreitet, gibt es ansonsten nicht in der Welt. Deswegen denken wir, diese sehr überzogene Kritik an einem Land ist sehr oft antisemitisch geprägt.
Natürlich hat jeder das Recht, die Politik von einem anderen Land zu kritisieren, aber die Art und Weise, wie Israel kritisiert wird, ist nicht zu vergleichen mit anderer Kritik. Wir reden nicht von Palästinenserkritik. Wir reden nicht von Deutschlandkritik. Wir reden nicht von Frankreichkritik. Es gibt nur diese Israelkritik. Das zeigt allein, dass es kein normales politisches Phänomen ist.
Deutschlandfunk Kultur: Kommen wir nochmal zurück nach Deutschland. Das American Jewish Committee hat jüngst eine Studie über Islamismus und Antisemitismus an Berliner Schulen veröffentlicht. Das Ganze hatte die Form einer Umfrage unter Berliner Lehrern. Die Ergebnisse waren einigermaßen erschütternd. – Haben Sie damit gerechnet?
Deirdre Berger: Nicht in diesen Dimensionen. Wir wussten von einzelnen Anekdoten, aber durch diese qualitative Studie konnten wir feststellen, dass das Problem viel größere Dimensionen hat als wir erwartet haben.

Grundwerte der Demokratie infrage gestellt

Deutschlandfunk Kultur: Können Sie vielleicht auf die Ergebnisse eingehen und uns schildern, was dabei genau herausgekommen ist?
Deirdre Berger: Ja, was uns wirklich sehr besorgt, ist, dass die Lehrer berichtet haben von Religionsvorstellungen mancher Schüler, die wirklich gegensätzlich sind zu demokratischen Grundwerten und gewisse Grundwerte der Demokratie infrage stellen. Die stellen sogar die Autorität von Lehrern, insbesondere weiblicher Lehrer überhaupt infrage. Die sagen, dass sie etwas nicht glauben und erstmal ihren Imam fragen müssen. Es gibt einen großen Glauben an Verschwörungstheorien, was berichtet wurde, eine Ablehnung von Geschlechtergleichheit, Intoleranz gegen Minderheiten und auch gegenüber Homosexuellen. Und natürlich waren antisemitische Stereotype und Feindbilder sehr stark präsent, haben die Lehrer berichtet.
Was auch sehr besorgniserregend ist, ist, dass sehr viel Druck von einigen Schülern auf andere, besonders auf Mädchen ausgeübt wird, dass die sich nicht kleiden wie es sein soll, wenn sie gute Muslime sein sollen. Es geht bis hin zu Äußerungen in den Klassenzimmern, dass einige Schüler meinten, das ist nicht akzeptabel. Sie haben andere Schüler unter Druck gesetzt. Es geht hin bis zur Musik, die gewisse Schüler hören. Es war ziemlich umfassend, was sie berichtet haben, wo die Probleme liegen.

Fortbildung für Lehrer

Deutschlandfunk Kultur: Wie haben sich denn die Lehrer geäußert? Was tun sie dagegen? Wie geht das? Wir haben ja eben schon darüber gesprochen, Antisemitismus ist nicht nur eine Sache von Juden in Deutschland, sondern ist ja auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das zu überwinden. – Also, was wird konkret dagegen getan. Was kann auch das American Jewish Committee dazu beitragen?
Deirdre Berger: Die Lehrer wissen meistens nicht, wie man damit umgeht. Die versuchen es in ihrer Art und Weise. Die haben berichtet, dass sie oft von anderen Lehrern wenig Unterstützung bekommen. Deswegen hat AJC zusammen mit dem Berliner Senat und dem Landesinstitut für Schulmedien eine Lehrerfortbildung ins Leben gerufen, wo wir Grundsätze vom Islam vertiefen konnten, von Judentum, von dem modernen Staat Israel und vor allem von Salafismus und anderen islamischen extremistischen Bewegungen, die jetzt viele von ihren Schülern leider erfassen.
Deutschlandfunk Kultur: Was kann man dagegen tun? Was wird da genau angeboten für Lehrer?
Deirdre Berger: Diese zweijährige Lehrerfortbildung kommt jetzt zum Ende, aber Berlin hat gesehen durch diese Studie des AJC und auch durch die Lehrerfortbildung, dass der Bedarf erheblich ist. Es wird fortgesetzt. Außerdem wird ein Curriculum daraus entwickelt in der Hoffnung, viel mehr Lehrer zu erreichen, um diese Wissenslücke zu schließen und auch mehr Debatten innerhalb der Schüler anzuregen.

Schimpfwort "Jude"

Deutschlandfunk Kultur: Da gibt es ja oft Fälle von großer Gleichgültigkeit. Hier in Berlin wurde zum Beispiel ein jüdischer Schüler an einer Schule gemobbt. Das ist ungefähr zwei Jahre her. Und nachdem seine Eltern dann einen offenen Brief geschrieben hatten, wurden die anderen Eltern aktiv und sagten: "Ihr zerstört die Reputation unserer Schule", anstatt sich mit dem Antisemitismus auseinanderzusetzen, der dort offensichtlich stattfindet. Also, Sie haben eben davon gesprochen, dass es in Deutschland so ein Klima gibt, ein durchaus gutes Klima der Verantwortung und der Reaktion auf Antisemitismus. Aber wenn man auf die Einzelfälle schaut, ist das ja nicht immer so. Da wird ja eher gerne weggeschaut.
Deirdre Berger: Die Schulleiter werden sehr oft weggucken. Die wollen nicht, dass ihre Schule als antisemitisch verstanden wird, die Eltern natürlich auch nicht. Trotzdem existiert das Problem.
Es ist wirklich Zeit, dass man aufhört, das einfach unter den Teppich zu kehren. Wir müssen auch darüber reden. Es ist nicht normal, dass "Jude" ein Schimpfwort auf vielen Schulhöfen in Berlin und in Deutschland ist. Es ist nicht normal, dass Schüler Angst haben, Symbole vom Judentum zu tragen, dass es öffentlich bekannt ist, dass sie jüdisch sind. Es ist nicht normal, dass die dauernd beleidigt werden. Die sozialen Medien sind ein großes Problem. Da kommt viel von Radikalisierung leider. Das geht bis hin zu gewissen Facebook-Seiten, Beschimpfungen und Beleidigungen von jüdischen Schülern.
Es ist ein ziemlich umfassendes Problem und es ist sehr wichtig, dass man das jetzt anerkennt – und das ist ganz Deutschland, dass viel mehr Lehrerfortbildung dafür gemacht wird und dass es thematisiert ist.

Austausch zwischen jüdischen und muslimischen Gemeinden

Deutschlandfunk Kultur: Arbeiten Sie bei solchen Dingen auch zum Beispiel mit den Kirchen zusammen?
Deirdre Berger: Antisemitismus ist kein wirkliches Problem der Religion. Das ist eine Einstellung, eine Verschwörungstheorie. Da muss man mit sehr vielen gesellschaftlichen Kräften zusammenarbeiten. Wir haben Kontakt zu den Kirchen, aber auch zu politischen Stiftungen, auch zu Schulen, zu Regierungsvertretern, Parlament. Da muss man wirklich auf allen Seiten gegen dieses Problem stehen.
Deutschlandfunk Kultur: Wie ist es denn um die Kontakte des AJC mit muslimischen Gemeinden und Organisationen bestellt?
Deirdre Berger: AJC Berlin hat seit mehreren Jahren einen Runden Tisch von türkischen und jüdischen young professionals. Wir haben viele Kontakte in der muslimischen Gemeinde und versuchen das aufzubauen und würden gern noch mehr Kontakte haben. Das ist manchmal nicht immer übersichtlich. Es ist keine so gut organisierte Gemeinde. Aber wir finden, dass es sehr wichtig ist, dass Juden und Muslime, die ehemalige größte Minderheit sind Juden in Deutschland, und heute sind Muslime die größte Minderheit, sich austauschen. Da gibt es schon vieles, was man gemeinsam diskutieren kann – bei allen Unterschieden. Das muss man auch thematisieren.

Antisemitismus und Antiamerikanismus

Deutschlandfunk Kultur: Ich stelle jetzt einfach mal so die Frage in den Raum: Der ehemalige amerikanische Botschafter Phil Murphy hat das ja gemacht, dass er einfach Schüler mit Migrationshintergrund nach Amerika geholt hat für einen Schüleraustausch für vier oder acht Wochen, um denen zu zeigen, wie Amerika ist, und einfach die Möglichkeit zu geben, etwas kennenzulernen, um eben dieser Amerikafeindlichkeit, die ja auch immer oft gekoppelt ist mit Antisemitismus, zu entgegnen.
Wäre das vielleicht auch ein Modell für das American Jewish Committee, das sie unterstützen könnte?
Deirdre Berger: Das ist etwas, was wir schon mit der Botschaft unterstützt haben. Wir sind ja offen dafür natürlich, aber wir haben nicht die Möglichkeiten von der US-Regierung. Wir sind eine relativ kleine NGO. Aber wir finden das eine extrem gute Initiative und haben mit der Botschaft darüber beraten.

Stärkere Zivilgesellschaft seit dem Mauerfall

Deutschlandfunk Kultur: Treten wir mal kurz einen Schritt zurück. Sie sind jetzt seit 17 Jahren Direktorin des American Jewish Committee hier in Berlin. Wie sind Ihre Erfahrungen in Deutschland?
Deirdre Berger: Seit dem Mauerfall hat mich besonders jetzt beeindruckt und geprägt, diese Entwicklung zu sehen, dass Deutschland wirklich eine viel größere Vielfalt bekommen hat nach dem Fall der Mauer und auch aus der Zivilgesellschaft viel stärker geworden ist. Das gefällt mir sehr gut in Deutschland.
Ich merke auch mit großem Interesse, dass die transatlantischen Beziehungen sich ändern, dass Deutschland einfach eine wichtige Rolle innerhalb der EU und auch auf globaler Ebene einnimmt. Ich bin sehr neugierig zu sehen, wie das weitergeht.
Es gibt natürlich andere Erfahrungen, zum Beispiel das Thema Antisemitismus, wo man nicht immer schnell genug reagiert hat, wo erst jetzt Programme kommen, die eigentlich schon vor 15 Jahren hätten eingeführt sein können. Sorgen wegen der vielen Angriffe auf Flüchtlinge: Egal, wie man zu diesem Thema steht, ist Gewalt natürlich nicht gerechtfertigt auf irgendeiner Seite. Sorgen über populistische Entwicklungen hier in Deutschland sind aber bislang relativ begrenzt geblieben, auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern.
Man muss immer sehr wach sein, aber insgesamt, die Entwicklungen hier gefallen mir sehr gut.

Klare Positionierung gegenüber Trump

Deutschlandfunk Kultur: Wo wir gerade über rechtspopulistische Bewegungen reden, kommen wir zu einem Vorfall, der jüngst in den USA hohe Wellen geschlagen hat. Der amerikanische Präsident hat die Schuld für die Gewalt bei einer Demonstration von Neo-Nazis in Charlottesville zu gleichen Teilen auf die Demonstranten und die Gegendemonstranten verteilt. Für diese Verharmlosung dieser Neo-Nazis, die ja zum Beispiel für jeden erkennbar klar antisemitische Parolen brüllten, bekam er dann viel Kritik.
Wie hat sich das American Jewish Committee in den USA dazu verhalten?
Deirdre Berger: Man kann als jüdische Organisation, als zivilgesellschaftliche Kraft natürlich so eine rassistische, antisemitische Veranstaltung nicht unkommentiert bleiben lassen. Wir haben an Präsident Trump appelliert. Da hat der amerikanische Präsident des AJC, David Harris, an Präsident Trump direkt geschrieben, dass Hass und Fremdenfeindlichkeit in Charlottesville klar zu verurteilen ist.
Das ist nicht getan mit einer Verurteilung der Taten auf beiden Seiten. Da haben wir uns sehr klar positioniert.
Deutschlandfunk Kultur: Ist es für Sie beunruhigend, so etwas aus Munde eines amerikanischen Präsidenten zu hören? Denn die USA waren ja auch immer für viele Juden ein Rückzugsort, ein Fluchtort, manchmal auch ein Sehnsuchtsort, aber immer auch eine Rückversicherung. Hat sich das mit Donald Trump geändert?
Deirdre Berger: Also zuerst, es war natürlich beunruhigend, diese Nivellierung von den Taten von den Rechtsextremisten in den Aussagen zu hören von einem amerikanischen Präsidenten. Vor allem war das eine Ideologie, die seit längerem in den äußerst rechten Medien in den USA sehr populär ist, Theorien, die haarsträubend sind zum Teil, die er einfach so übernommen hat aus Medien, aus anderen Diskussionskreisen.
Ich denke aber insgesamt für Juden in USA, was uns sehr ermutigt hat, war die starke Reaktion, überparteiliche Reaktion gegen diese Aussage von Präsident Trump. Das war nicht akzeptiert. Auch in Charlottesville zum Beispiel, diese rechtsextreme Demonstration hat am Sabbat stattgefunden, als es Gottesdienst gegeben hat. Da haben viele in Charlottesville geholfen, die Synagoge zu schützen. Da war sehr viel Solidarität aus der Bevölkerung. Ich glaube, das ist was sehr Wichtiges. Immerhin sind die meisten jüdischen Orte in den USA nicht geschützt, so wie es in Deutschland, in Europa üblich ist. Und ich denke, dass nach wie vor Juden schon ein Gefühl von Sicherheit in USA haben, ein jüdisches Leben führen zu dürfen.

Quellen des Gegenwarts-Antisemitismus

Deutschlandfunk Kultur: Um mal wieder nach Europa zurückzukommen, es gab diese Woche eine Studie über wachsenden Antisemitismus in Großbritannien. Es gibt immer wieder Berichte über wachsenden Antisemitismus in Frankreich. – Ist Ihrer Ansicht nach diese rechtspopulistische Welle, die derzeit über alle westlichen Industriestaaten, und nicht nur die, hinweggeht, ist diese Welle es Autoritarismus und des Rechtspopulismus und auch der Xenophobie verbunden mit einem Anwachsen des Antisemitismus?
Deirdre Berger: Das Anwachsen des Antisemitismus geht wirklich zurück auf die zweite Intefada 2001/ 2002. Und es kommt sehr klar zum Teil aus Teilen der muslimischen Bevölkerung. Das muss man sehr klar sagen. Das ist eine neue Quelle in dem Sinne und bleibt eine. Das ist ein großes Problem.
Es gibt aber das Problem Antisemitismus in sehr vielen anderen Sektoren, die sehr gewachsen sind, zum Beispiel unter den Globalisierungsgegnern. Diese Studie in Großbritannien hat gezeigt, dass achtzig Prozent von den Juden in Großbritannien glauben, dass die Labour Party, die links ist, Antisemitismus nicht ernsthaft bekämpft in ihren eigenen Reihen. Von einer Partei, die früher sehr stark von Juden unterstützt wurde, gibt es sehr, sehr wenig Unterstützung heute.
Es gibt in Frankreich ein Problem, dass die Regierung nicht immer öffentlich anerkennt, wer die Täter sind. Es gab neulich ein horrendes Beispiel von einer Frau, Sarah Halimi, die ermordet wurde, eine jüdische Ärztin in Frankreich, von einem Nachbarn, der sie ganz klar antisemitisch eine Stunde lang beschimpft hat, bevor er sie umgebracht hat. Bislang ist in Frankreich nicht klar gesagt worden, dass es eine antisemitische Tat ist.
Das sind alles Quellen für Antisemitismus, die wichtig sind. Dazu kommt natürlich diese rechtspopulistische Welle. Manchmal sind die Parteien für Israel, aber es ist nicht akzeptabel, wenn Parteien anti-muslimisch sind, wenn die rassistisch sind, wenn die auch Antisemitismus in ihren eigenen Reihen nicht klar bekämpfen. Es gibt sehr viele Quellen leider für Antisemitismus heute. Deswegen bleibt die Anzahl an Taten viel zu hoch in Europa heute.

Globales Phänomen

Deutschlandfunk Kultur: Antisemitismus ist ja eine Ideologie, die in Europa entstanden ist, nicht im arabischen Raum. Also, wie viel Verantwortung tragen wir Europäer auch dafür, dass wir dem wirksam entgegentreten? Haben Sie das Gefühl, dass das auf europäischer Ebene insgesamt als Problem erkannt wird?
Deirdre Berger: Wir müssen sehr aufpassen, über die Quellen von Antisemitismus zu reden. Leider hat es sich in allen Teilen der Erde manifestiert und ist nicht auf eine einzige Quelle zurückzuführen. Es gibt Antisemitismus auch in dem arabischen Teil der Erde seit mehreren hundert Jahren. Es wäre vereinfacht zu sagen, Antisemitismus ist in Europa entstanden und in den Nahen Osten exportiert worden. Deswegen ist es nur ein europäisches Problem. – Es ist ein globales Problem.
Verschwörungstheorien sind nicht auf Europa, nicht auf den Nahen Osten begrenzt. Antisemitismus ist in seiner Urform der Versuch, alles, was schlimm und böse ist in der Welt zu erklären und das auf jemanden zu schieben, dem Schuld zu geben. Das sind die Juden. Leider ist das sehr hartnäckig.
Wichtig ist, dass wir es bekämpfen und das immer weiter zu verhindern, so gut wir können, weil, ansonsten wäre es nicht wirklich möglich für Juden, ein glückliches Leben zu leben. Antisemitismus war, ist und wird eine große Gefahr sein. Trotzdem kann man nicht resignieren. Man muss sagen, das ist ein Angriff auf unsere Demokratie. Wenn Juden nicht friedlich in unserer Gesellschaft, besonders in Deutschland, leben können, was für eine Demokratie ist das? Antisemitismus ist immer zu bekämpfen.

Höchste Priorität

Deutschlandfunk Kultur: Wir stehen jetzt kurz vor der Bundestagswahl in Deutschland. Das ist in vier Wochen. Und da stellt sich die Frage natürlich auch: Was sind Ihre Erwartungen und auch Ihre konkreten Forderungen an die deutsche Politik?
Deirdre Berger: Egal, wer jetzt die nächste Regierung stellt, wichtig ist, dass Antisemitismus mit höchster Priorität behandelt wird. Wir haben gerade in Barcelona gesehen, dieser fürchterliche Akt von Terrorismus hat vor einem jüdischen Restaurant stattgefunden. Es gab in Charlottesville antisemitische Sprüche von den Extremisten. Und es gab auch Bedrohungen der Synagoge. Fast überall, wo wir schauen, ist es ein Problem – auch hier in Deutschland. Und man kann das nicht außer Acht lassen, weder den globalen Trend, noch die viel zu hohe Anzahl von Taten hier in Deutschland.
Von daher, wir hoffen in der nächsten Legislaturperiode, dass es möglich ist, auf den Expertenbericht des Bundestags hin einen Antisemitismusbeauftragten sofort einzusetzen. Es ist wichtig zu koordinieren. Es ist wichtig, auf neue Entwicklungen zu reagieren. Wir hoffen auch auf eine Verbesserung und Verstetigung von Initiativen insgesamt gegen Hass, gegen Antisemitismus, gegen Rassismus. Da gibt es sehr gute Arbeit, die geleistet wurde in dieser Legislaturperiode. Das soll weitergehen.
Auch sehr, sehr wichtig ist, dass Lehrkräfte in Deutschland weitergebildet werden. Wir sehen, dass es große Wissenslücken gibt zum Thema Antisemitismus, zum Thema Geflüchtete, zu vielen Themen der Zivilgesellschaft, wo es wichtig ist, mehr zu wissen. Auch die Themen Salafismus und islamischer Extremismus, das muss man einfach viel mehr in den Schulen thematisieren und wach sein.
Zum Schluss hoffen wir sehr, dass die transatlantische Arbeit in der nächsten Legislaturperiode ausgebaut wird, egal, was die jetzige Beziehung zu den USA ist, und das ist nicht immer eine leichte Beziehung aus verständlichen Gründen, aber nur die transatlantische Beziehung kann ein Garant für unsere gemeinsamen Werte sein. Deswegen ist es wichtiger als je, besonders wenn die westliche Welt so unter Bedrohung ist von terroristischen Kräften, dass wir zusammenkommen und unsere globale Sicherheit aufrecht erhalten. Deutschland und USA sollen das zusammen tun.
Von daher erhoffen wir sehr von der nächsten Legislaturperiode eine Verstärkung der transatlantischen Arbeit.
Deutschlandfunk Kultur: Vielen Dank.
Mehr zum Thema