Israel

Soziologe erwartet Koalitionspoker

Jubelnde Parteianhänger in Wahlkampf-T-Shirts und mit Flaggen, im Hintergrund ein Plakat mit einem Bild von Benjamin Netanjahu.
Freude über den Wahlsieg bei Likud-Anhängern in Tel Aviv © picture alliance / dpa / Abir Sultan
Natan Sznaider im Gespräch mit Dieter Kassel |
Der israelische Soziologe Natan Sznaider erwartet nach der Wahl in Israel eine schwierige Koalitionsbildung. Dabei spiele die Entscheidung der Mitte-Rechts-Partei von Mosche Kachlon eine wichtige Rolle.
Er sei vor allem ratlos, sagte Sznaider im Deutschlandradio Kultur nach dem überraschenden Wahlsieg für die Likud-Partei von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Noch am Wochenende sei eine Atmosphäre in der Luft gewesen, als ob die Ära Netanyahu vorbei sei. Dass der Likud nun doch mit großem Abstand gewonnen habe, sei für alle in Israel überraschend.
Die Angst hat gesiegt
"Er hat sich nochmal über die nächste Runde gerettet", sagte Sznaider über den Sieg von Netanyahu. Es habe sich gezeigt, dass die Themen des gegnerischen zionistischen Lagers, wie die steigenden Lebenshaltungskosten, Wohnungspreise und das kaputte Verhältnis zu den USA, im Wahlkampf nicht so gezogen hätten. "Am Ende waren dann doch irgendwie die Angst vor Iran und die Angst vor den Nachbarn – das war dann am Ende doch mehr ausschlaggebend." Auch Netanyahus persönliche Kampagne sei erfolgreich gewesen.
Wird die Partei Kulanu Koalitionspartner?
"Der Preis, den er dafür gezahlt hat, ist, dass er seine kleinen Satellitenparteien ziemlich zu Boden gebracht hat", sagte der Soziologe. Die zukünftige Koalition stehe noch nicht fest. Da Netanyahu zum Regieren 61 Sitze in der Knesset benötige, müsse er noch mindestens 31 Mandaten von anderen Parteien hinzugewinnen. "Das dürfte nicht so einfach sein." Es komme deshalb vor allem auf die Mitte-Rechts-Partei Kulanu von Mosche Kachlon und deren zehn Sitze an. "Wird er mitgehen, dann hat Netanyahu innerhalb von ein paar Tagen eine Regierung", sagte Sznaider. "Wird er nicht mitgehen, dann hat er keine, das ist ganz klar."

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Gestern Abend sah es bei der Parlamentswahl in Israel eine ganze Weile lang noch nach einem Patt aus zwischen der Likud-Partei des Ministerpräsidenten Netanyahu und dem Zionistischen Lager seines Herausforderers Herzog. Inzwischen kann man feststellen, dass es so nicht gekommen ist. Nach Auszählung von 99 Prozent der Stimmen kommt die Likud-Partei auf 29, vielleicht sogar 30 der Sitze in der Knesset, das Zionistische Lager kommt nur auf 24 Sitze, und drittstärkste Kraft wird das Arabische Parteienbündnis mit voraussichtlich 14 Sitzen. So das noch immer nicht amtliche Endergebnis, aber das durchaus ernst zu nehmende Ergebnis nach Auszählung fast aller Stimmen. Wir wollen über dieses Ergebnis, dass, glaube ich, zumindest einige Menschen auch aufgrund der Prognosen, die etwas anderes vorhergesagt hatten, sprechen, und zwar mit Natan Sznaider. Er ist Publizist und Professor für Soziologie an der Akademischen Hochschule in Tel Aviv. Schönen guten Morgen, Herr Sznaider!
Natan Sznaider: Guten Morgen, guten Morgen!
Kassel: Ist das für Sie genauso überraschend wie, muss ich zugeben, für mich, dass am Ende nun doch Netanyahu der große Gewinner dieser Wahl ist?
Sznaider: In der Form schon. Am Wochenende war ganz klar so eine Atmosphäre in der Luft, dass es vorbei ist mit der Ära Netanyahu. Und die Prognosen am Wochenende waren ja alle so mit einem Unterschied von vier, fünf Mandaten in Richtung des Zionistischen Lagers, und dann auch die letzten Tage vor der Wahl hatte man das Gefühl, dass es eigentlich vorbei ist. Dann waren dann die Hochrechnungen gestern mit dem Unentschieden, und heute Morgen sind wir aufgewacht mit einem ziemlich großen Abstand. Also, er hat wirklich – hat sich noch mal über die nächste Runde gerettet, sagen wir es mal so. Das ist sehr überraschend für alle hier, glaube ich auch.
Kassel: Wie lässt Sie dieses Ergebnis denn nun zurück? Sind Sie zufrieden, sind Sie unzufrieden, oder sind Sie vor allem ratlos?
Sznaider: Ich bin vor allen Dingen auch ein bisschen ratlos. Ich hab auch gesehen, es ist ein klar demografische Sache, also in Tel Aviv hat das Zionistische Lager gewonnen, ziemlich klar, in Jerusalem hat es ziemlich klar verloren. Und das ist dann auch diese Tel-Aviv-Jerusalem-Geschichte. Aber es ist klar, dass also die Themen, die vom Zionistischen Lager versucht wurden, irgendwie als die Hauptthemen des Wahlkampfs zu machen, also Lebenshaltungskosten, Wohnungspreise, das kaputte Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, hat alles nicht gezogen am Ende. Am Ende war dann doch irgendwie die Angst vor Iran und die Angst vor den Nachbarn, das war am Ende dann doch noch mehr ausschlaggebend. Und auch seine persönliche Kampagne.
Irgendwie hatte man das Gefühl, dass die Leute Netanyahu-müde geworden sind über die letzten sechs Jahre, aber das ist anscheinend nicht der Fall gewesen. Obwohl ich meine, der Preis, den er für das gezahlt hat, ist, dass er seine kleinen Satellitenparteien ziemlich zu Boden gebracht hat. Also, die Koalition ist noch nicht 100-prozentig fest. Es ist ein ganz klarer Gewinn für ihn, für die Likud-Partei, mit sagen wir mal 30, gehen wir mal von 30 aus, das ist genau die Hälfte, was man braucht, um 61 braucht man ja hier, um zu regieren, und noch 31 Mandate ins Boot zu ziehen, das dürfte nicht so einfach sein. Bis 54, 55 kann es einfach sein, aber dann wird es ungeheuer schwierig. Und dann kommt es dann auf eine Partei an, die hier zehn Stimmen bekommen haben, und so eine ein bisschen Rechts-Mitte-Partei von Mosche Kachlon, der ja gerade über die Lebenshaltungskosten hier seine Kampagne gemacht hat und der ehemaliges Likud-Mitglied war. Und auf den wird es jetzt ankommen. Wird er mitgehen, dann hat Netanyahu innerhalb von ein paar Tagen eine Regierung. Wird er nicht mitgehen, dann hat er keine. Das ist ganz klar.
Regierung der nationalen Einheit?
Kassel: Nun gibt es ja eine theoretische, in Wahrheit mehrere, aber eine weitere Option, über die ich gern mit Ihnen sprechen möchte, Herr Sznaider. Der israelische Präsident hat ja zu einer Regierung der nationalen Einheit aufgerufen und tatsächlich die Möglichkeit ins Spiel gebracht, Herzog und Netanyahu sollten zusammen regieren. Ich weiß, sie haben beide vorher das schon deutlich ausgeschlossen, aber zumindest in Deutschland ist das am Wahlabend dann egal.
Sznaider: Ja, das man das ausgeschlossen hat, ich meine, Sie kennen das ja, ich meine, was geht einen das Geschwätz vor den Wahlen an irgendwie. Das ist natürlich, das wäre vielleicht, sagen wir mal so, für viele Leute hier das Optimale. Es wäre eine stabile Regierung, und die beiden Parteien hätten dann zusammen schon fast die Mehrheit, also so um die 54 Mandate, und dann bräuchten sie noch eine einzige Partei und könnten dann eigentlich schon regieren. Es würde viel dazu beitragen, auch das Verhältnis, sagen wir mal, zu den Vereinigten Staaten, auch zu Europa, wieder in gewisse Normalität zu leiten. Es wäre, sagen wir mal, die bessere, die bessere Lösung, aber ich kann es mir im Moment nicht vorstellen, obwohl alles vorstellbar ist.
Aber die Art und Weise auch, die Rhetorik, so eine Art Wahlkampf, wo man wirklich alle Brücken hinter sich abgerissen hat irgendwie, das wird ungeheuer schwierig werden. Auch, das Zionistische Lager ist eine ziemlich – also, ich kann die, also wenn ich mir die Personen auch anschaue in der Partei, wie die zusammen dann mit den Leuten aus dem Likud regieren könnten, sollten – aber wenn man dadurch, sagen wir mal, die etwas rechtsextremeren aus der Koalition heraushalten könnte und so – also sagen wir mal, für Leute, die hier nicht gerade rechtslastig sind, wäre das jetzt, sagen wir mal, die bessere Option. Aber ich sehe es noch nicht. Aber es kann gut auch sein. Es kann durchaus sein.
Das Arabische Bündnis ist nicht zur Koalition bereit
Kassel: Herr Sznaider, ich möchte zum Schluss Ihnen eine Frage stellen, von der ich weiß, das ist naiv. Aber ich trau mich das jetzt mal. Ich habe folgende naive Überlegung angestellt: Wenn die Likud-Partei und das Zionistische Lager miteinander zusammenarbeiten würden, hätten sie 54 Sitze eventuell, würde knapp nicht reichen. Wenn sie mit der drittstärksten Kraft, der Arabischen Allianz zusammenarbeiten, würde es dicke reichen, die bekommt wahrscheinlich 14 Sitze. Es ist sehr naiv, aber dann säßen ja eigentlich Vertreter aller Israelis in der Regierung. Wäre das nicht eigentlich die beste Möglichkeit?
Sznaider: Das ist nicht nur sehr naiv, das ist jenseits von naiv. Das ist – ich weiß gar nicht, was für ein Wort ich dafür benutzen soll. Ich meine, das ist – die sind eigentlich nicht koalitionsfähig, das würden die auch nicht wollen.
Kassel: Alle drei nicht, wahrscheinlich?
Sznaider: Alle drei nicht. Und vor allem das Arabische Bündnis nicht, das vielleicht überhaupt nicht weiter bestehen wird. Es kann gut sein, dass sie in der nächsten Woche wieder auseinanderbrechen. Das ist auch eine Möglichkeit. Wenn es zu einem Bündnis kommt, dann also, wie gesagt, Likud, Arbeitspartei, und dann, sagen wir mal, noch eine, zwei, drei kleinere Parteien, und dann hätte man eine stabile Regierung, die – das Arabische Bündnis mit ihren 14 Sitzen, das ist ganz klar hier, das ist der andere, das ist die Opposition, das ist die Minderheitenpartei hier, und die also auch nicht – ich kann mir nicht mal vorstellen, dass die, sagen wir mal, eine Links-Mitte-Regierung stützen würde.
Kassel: Wir stimmen da völlig überein. Vorstellen kann ich es mir auch nicht. Ich wollte es nur einmal als Gedankenexperiment, das gar nicht funktionieren kann, ins Spiel bringen. Herr Sznaider, es bleibt auf jeden Fall spannend, und ich denke, wir werden noch viel Gelegenheit haben, über was auch immer jetzt herauskommen wird als Folge dieser Wahlen, zu reden. Ich danke Ihnen sehr für heute, für das Gespräch!
Sznaider: Ich danke Ihnen!
Kassel: Nathan Sznaider war das, Soziologe und Publizist aus Tel Aviv, über das Ergebnis der Parlamentswahlen gestern in Israel.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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