Internationales Deutsches Turnfest

"Turnen? Wie antiquiert ist das denn?"

Zu sehen:  Lukas Dauser (l-r), Präsident des Deutschen Turner-Bundes (DTB), Rainer Brechtken, der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD) und die Helferin Monika Richter auf der Wiese vor dem Reichstag
Das Turnfest findet vom 3. Juni bis 10. Juni 2017 in Berlin statt. © picture alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert
Von Wolf-Sören Treusch |
Beim Internationalen Deutschen Turnfest präsentieren Freizeit- und Spitzensportler ihr Können. Dabei geht es um A wie Aerobic bis zu W wie Wertungsmusizieren. An die politischen Anfänge dieser Veranstaltung im Jahr 1860 erinnert kaum noch etwas.
"Wie bunt ist das denn!", lautet das Motto des Internationalen Deutschen Turnfestes, das Anfang Juni bereits zum fünften Mal in Berlin ausgetragen wird. Es ist ein Event der Superlative: 70.000 Teilnehmer, 20.000 Tagesbesucher und mehrere Tausend Helfer machen das Turnfest zur größten Wettkampf- und Breitensportveranstaltung der Welt.
Manch einer mag die Nase rümpfen und spötteln: "Turnen? Wie antiquiert ist das denn?" Und sagen: Traditionen wie diese seien nicht mehr zeitgemäß. Dabei ist das Turnfest schon lange nicht mehr das, was es 1860 bei seiner Gründung war.

Manuskript zur Sendung:

Beherzt greift Turnlegende Eberhard Gienger zu – wie ehedem am Reck. Zwei Schnittchen sind seine Beute, er muss gleich zum nächsten Termin. Zusammen mit Olympiasieger Fabian Hambüchen sitzt er im Restaurant des Berliner Funkturms. Ihr Auftrag: werben für das Internationale Deutsche Turnfest, das in der Pfingstwoche in Berlin stattfindet. Eberhard Gienger, mehrmaliger Welt- und Europameister und zigfacher deutscher Meister im Kunstturnen, erinnert sich gern an die Anfänge seiner Karriere, an 1968.
"Ich habe das Turnfest als etwas ganz Besonderes erlebt, so als 16-Jähriger, der ich damals noch war, habe ich damals die Deutsche Jugendmeisterschaft gewonnen, und zwar mit ganz normalen Bedingungen. Ich habe in der Schule übernachtet. Ich habe von zuhause sogar eine Luftmatratze mitbekommen, wo morgens immer die Luft raus war, und ich lag da quasi auf dem blanken Boden. Im Unterschied zu heute, wo man doch eher in ein Hotel geht, wenn man sich um große Meisterschaften bewirbt, war es da doch etwas im ursprünglicheren Zustand."
Nicht zu vergessen, fügt er hinzu, dass, was man heute "Socializing" nennt, Leute kennenlernen auf den großen Turnfestpartys:

"Aprés-Turnen"

"Da kann ich mich auch noch dran erinnern: Das war für uns früher als Jugendliche der Anziehungspunkt im Anschluss an den Wettkampf, dort mit dabei sein zu dürfen, Aprés-Turnen gewissermaßen …"
Eberhard Gienger, CDU-Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Turner
Eberhard Gienger, CDU-Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Turner© dpa picture alliance / Marijan Murat
Neben ihm sitzt Fabian Hambüchen und feixt – die beiden kennen sich gut. Der Reckolympiasieger von Rio hat keine Turnfestanekdoten auf Lager. Aber er ist in diesem Jahr Botschafter der Veranstaltung.
"'Ebse' hat schon gut formuliert und erklärt, was so ein Turnfest ausmacht. Mein Erstes war 2002 in Leipzig. Wir haben halt damals von Anfang an in Hotels gewohnt, weil wir uns primär auf die Wettkämpfe konzentriert haben und das ganze Drumherum gar nicht angenommen haben, und deswegen ist es für mich diesmal auch ne ganz neue Position, ne ganz neue Rolle, dass ich auch mal probieren kann, ein bisschen von dem Drumherum zu erleben. Was jetzt nicht bedeutet, dass ich bei jeder Turnfestparty abends die Tür abschließe."
Das Internationale Deutsche Turnfest gilt als die größte Wettkampf- und Breitensportveranstaltung der Welt. Klar, dass ein solches Ereignis einen eigenen Botschafter braucht. Als Fabian Hambüchen gefragt wird, wie seine Botschaft fürs Turnfest lautet, kommt er kurz ins Schleudern. "Berlin turnt bunt", "wie bunt ist das denn?" egal. Er erzählt von Fairplay und Toleranz, von der großen Turnfamilie, und davon, dass sein Vater beim letzten Mal Besuch aus Japan bei sich beherbergt habe.
"Die Message nach draußen ist, dass einfach Sport uns bewegt, dass Sport uns zusammenbringt, ja, und dass wir alle über den Sport so viele Barrieren aus der Welt schaffen können, da sehe ich die große Botschaft an alle."

Bunte Massenchoreographie

"Wir sind TuJu!", wir sind die Turnerjugend – schallt es aus weit über 1.000 Kinderkehlen. Ort des Geschehens: ein kleines Stadion im Berliner Westen. Wer den Geist des Turnfestes spüren, wer erleben will, wie Sport es tatsächlich schafft, Menschen zusammenzubringen, ist hier richtig.
1.787 Mädchen und Jungen aus Berlin und Brandenburg proben die Choreografie des Kinderbildes für die große Gala im Olympiastadion.
1.787 Mädchen und Jungen aus Berlin und Brandenburg proben die Choreografie des Kinderbildes für die große Gala im Olympiastadion. © Deutschlandradio/ Wolf-Sören Teusch
1.787 Mädchen und Jungen aus Berlin und Brandenburg proben die Choreografie des Kinderbildes für die große Gala im Olympiastadion. Blau, lila, pink und gelb: mit großen farbigen Tüchern legen sie gemeinsam das Turnfest-Logo auf den Rasen – drei Sportler, die auf dem Brandenburger Tor tanzen. Parallel dazu fahren einhundert Kinder mit Einrädern verschiedene Formationen auf der Leichtathletiklaufbahn. Es ist ein ordentliches Gewusel, Nicole Greßner vom Berliner Turn- und Freizeitsport-Bund hat es im Griff.
"Die große Herausforderung an alle von uns ist wirklich, dass man das Logo in vierzig Sekunden erkennt. Das Logo des internationalen deutschen Turnfestes. Dass man das in 40 Sekunden sieht. Ja, wir werden es schaffen. Auf alle Fälle. Und dass wir mit dem HipHop-Teil das Stadion einheizen, dass der Kessel kocht und alle mit klatschen. Ich gehe heute schlafen und singe 'Lieblingsfarbe bunt' und stehe wieder auf und singe 'Lieblingsfarbe bunt', ja, ich bin einfach begeistert, es macht auch Spaß, ist anstrengend, ist klar, aber mit meinen fünf Choreografen ist einfach toll und überhaupt mit den Vereinen und den Übungsleitern, die das dann letztendlich mit den Kindern umsetzen. Einfach super."
Viele Wochen lang haben die Kinder ihren jeweiligen Part im Heimatverein geübt. 48 Klubs aus Berlin und Brandenburg beteiligen sich. "Tuch 3" steht auf einem großen Zettel, vor dem eine Abordnung des TSV 90 Röbel an der Müritz auf ihren Einsatz wartet. Der Verein war schon 2005 dabei, als das Turnfest auch in Berlin stattfand.
"Es macht Spaß, mit so vielen auch zusammen zu tanzen und zu turnen, und gerade in Berlin im Olympiastadion ist das ein einmaliges Erlebnis. Ich denke mal, da muss jeder mal dabei gewesen sein. Ja, das ist schon Gänsehaut."
Drei Stunden dauert die Probe. Eine echte Herausforderung für die Kinder, zumal sie das Gesamtbild gar nicht sehen können, sagt dieses 12-jährige Mädchen:
"Ich war da so hinten, bei pink. Man weiß ja, wenn man da mitmacht, nicht genau, welcher Teil das ist. Aber auf jeden Fall waren wir pink. Es war ein bisschen anstrengend. Weil wir die ganze Zeit geübt haben."

Motto: "Wie bunt ist das denn"

Eine hat die ganze Zeit zugeschaut: Kati Brenner, die Chefin des Turnfest-Organisationskomitees. Sie ist sicher: die Gala im Olympiastadion wird fulminant. Wie das übrige Programm. Von A wie Aerobic bis W wie Wertungsmusizieren finden in über zwanzig Sportarten Wettkämpfe statt, darunter auch etliche deutsche Meisterschaften im Geräteturnen, Trampolinturnen und der Rhythmischen Sportgymnastik. Zudem gibt es Tausende Mitmachangebote: von Bouldern bis Yoga. Im Mittelpunkt steht die große Vielfalt des Sports. "Wie bunt ist das denn!", lautet daher auch das Motto des Turnfestes in diesem Jahr.
"Ich glaube, es gibt kein besseres Motto für die Stadt Berlin und auch nicht für uns als Turnerbund. Unter Turnen verbinden die meisten immer noch Geräteturnen, wir haben 24 Sportarten in unserem Verband, unter einem Dach, und diese Vielfalt darzustellen, war dieses Motto da, und: 'wie bunt ist das denn' heißt natürlich auch unterschiedliche Kulturen, unterschiedliche Ansichten, unterschiedliche Religionen, die sich hier einfach gemeinsam beim Sport machen zusammenfinden."
Das Turnfest wird ein Event der Superlative. 80.000 Aktive haben sich angemeldet, darunter 3.500 Gäste aus dem Ausland und 7.000 freiwillige Helfer. Für das Show- und Veranstaltungsprogramm wurden bereits 100.000 Karten verkauft. Beeindruckende Zahlen, die belegen, so Kati Brenner: das Turnfest hat nichts von seiner Attraktivität eingebüßt.
"Die ersten Turnfeste fanden 1860 statt. Ein Event, das so lange schon besteht und sich immer wieder den aktuellen Themen widmet, finde ich einfach faszinierend."

Turnvater Jahn und das Deutschtum

Angefangen hat alles in einem Park in Berlin-Neukölln. Vor über 200 Jahren. Am 18. Juni 1811 errichtete Friedrich Ludwig Jahn dort den ersten deutschen Turnplatz. An den Ästen eines Baumes soll er seinen Schülern erste Reckübungen beigebracht haben. Heute erinnert in dem Park ein Denkmal an den Begründer der Turnbewegung. Auch das Turnfest wird ihn dort in diesem Jahr mit einer Feier ehren.
Ein Denkmal von "Turnvater" Friedrich Ludwig Jahn im Volkspark Hasenheide in Berlin-Neukölln.
Ein Denkmal von "Turnvater" Friedrich Ludwig Jahn im Volkspark Hasenheide in Berlin-Neukölln.© imago
Dabei war Turnvater Jahn, als der er in die Geschichtsbücher einging, eine durchaus widersprüchliche Persönlichkeit. Leibesübungen und Körperertüchtigung dienten einem bestimmten Zweck. Er wollte die Menschen fit machen für den Kampf gegen die französische Fremdherrschaft.
"Dem ging es schlicht und einfach um die Schaffung einer Art jugendlich-männlicher Guerilla.", erklärt Hans-Joachim Teichler, emeritierter Professor für Zeitgeschichte des Sports an der Universität Potsdam.
"Darum war das Turnen bei Jahn ausschließlich auf die Männer beschränkt und bezog vor allem wehrertüchtigende Übungen ein. Und Jahn hat von der Seite das Turnen auch sehr schnell mit nationalen und völkischen Gedanken überfrachtet. Ein internationales Turnfest wie Berlin jetzt wäre für Jahn niemals infrage gekommen."

"Frisch, fromm, fröhlich, frei"

Von Jahn stammt die Parole "frisch, fromm, fröhlich, frei". Sport war für ihn "Doping fürs Deutschtum", wie der SPIEGEL schrieb. Friedrich Ludwig Jahn schuf ein erzieherisches Komplettprogramm, in dem der Sport eine herausragende Rolle spielte. Eckhard Herholz, Turnexperte, Reporter im DDR-Fernsehen, später auch einige Jahre beim ZDF fürs Geräteturnen zuständig, sieht in ihm eher den Macher.
"Eigentlich war der Friedrich Ludwig Jahn der erste Manager des Sports. Obwohl er das Wort 'Manager' abgelehnt hätte, weil er ja gegen Anglizismen war, deutsche Sprache usw. Weil er es verstanden hat in seiner Zeit, seine Ideen, seine Sportart mit dem Zeitgeist zu verbinden. Kampf gegen napoleonische Eindringlinge, die Nation, geeintes Deutschland usw. Ich finde, Jahn war streitbar, vieles von ihm passt heute nicht in die Zeit, aber eine große Persönlichkeit der deutschen Geschichte ist er in jedem Fall."
Nicht umsonst hat Friedrich Ludwig Jahn Eingang gefunden in die "Hall of Fame des Deutschen Sports". Den Rechtsruck der Turnbewegung nach der Gründung des Kaiserreiches erlebte er nicht mehr mit. Jahn starb 1852.
"Die Turner waren dann später die Stützen des Kaiserreichs: 'Turner, Sänger, Schützen, das sind des Reiches Stützen', sagte man. Denn die Turner waren so rechts und kaisertreu und national gesinnt, dass sie das Sozialistengesetz nicht nur begrüßten, sondern in ihren eigenen Reihen anwandten. Auch im Kaiserreich haben sie sozialdemokratisch orientierte Turner ausgeschlossen."
Der Turnerbund entwickelte sich zum mitgliederstärksten Sportverband – und driftete immer mehr ins national-völkische Lager ab. Nach der Machtergreifung Adolf Hitlers war es endgültig vorbei mit der parteipolitischen Unabhängigkeit.

Turnen in der DDR

Turnfest in Leipzig 1970
Turnfest in Leipzig 1970. Die Turn- und Sportfeste der DDR fanden immer mit Aufmärschen und Fahnenweihe statt, immer dem Aufbau des Sozialismus verpflichtet. © imago/Gerhard Leber
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelte sich der Deutsche Turnerbund wieder zu einem der ganz großen Sportverbände. Mit heute fünf Millionen Mitgliedern. In der Bundesrepublik dauerte es lange, bis der Turnerbund seine rechtslastige Vergangenheit aufarbeitete. In der DDR hatten Staatsführung und Deutscher Turn- und Sportbund keine Berührungsängste mit dem Erbe Friedrich Ludwig Jahns. Im Gegenteil. Noch einmal der Sporthistoriker Hans-Joachim Teichler.
"1952 zum 100. Todestag von Jahn hat man dann eine große sozialistische Jahn-Feier gemacht. Jahn als Vorkämpfer des patriotischen Sozialismus gewürdigt, unter Ausblendung sämtlicher Fremdenfeindlichkeiten und chauvinistischen und antisemitischen Aussagen, die es bei Jahn auch gegeben hat."
Acht Turn- und Sportfeste gab es bis 1987 in der DDR. Immer in Leipzig, immer mit Aufmärschen und Fahnenweihe, immer dem Aufbau des Sozialismus verpflichtet. Eckhard Herholz war gern dabei: als Berichterstatter fürs DDR-Fernsehen, aber vorher auch schon als junger Turner:
"Durch das Turnfest kam man an Turnschuhe und Klamotte. Wir haben für nen Appel und nen Ei damals die gesuchten Zeha-Schuhe bekommen. Westmarken gab es ja nicht. Oder Trainingsanzüge. Und die dann den Sport trieben, hatten das."

"Es fehlen Vorbilder auf den Bildschirmen"

Eckhard Herholz, Turnexperte, am Schreibtisch vor Computermonitoren
Eckhard Herholz, Turnexperte, Reporter im DDR-Fernsehen, später auch einige Jahre beim ZDF fürs Geräteturnen zuständig© Deutschlandradio/ Wolf-Sören Teusch
Und heute? Heute bekomme die Öffentlichkeit vom Internationalen Deutschen Turnfest, vom Turnen insgesamt, kaum etwas mit, kritisiert Eckhard Herholz. Weil außer alle vier Jahre bei Olympia viel zu selten darüber berichtet werde.
"Ich bedaure das sehr, weil ich glaube, dass dieses moderne Kunstturnen eine der komplexesten Spitzensportarten für menschliche Wesen ist. Erinnern Sie sich an die Bilder von Olympia London zum Beispiel, diese verrückte 3-D-Kamera, die um das Sprunggerät herumfuhr, wo man dann sah, was für verrückte Bewegungen die machen. Und trotz dieser Möglichkeit der digitalen Darstellung turnen sie immer noch in den Bereichen der Unerheblichkeit. Vorbilder müssen auf Bildschirme, müssen auf iPhones, und wenn ich keine Berichterstattung aus Cottbus oder anderswoher kriege, oder – ja, zu wenig ..."
Turnen hat ein Imageproblem. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Deutschen Turnliga, der Bundesliga der Kunstturner.

Langeweile und Bewegungsmangel

200 Zuschauer verlieren sich im weiten Rechteck der Cottbuser Lausitz-Arena beim ersten Turnwettkampf der Saison: SC Cottbus gegen die TG Saar. Dabei geht für die Gäste einer der besten Kunstturner der Welt an den Start – Oleg Verniaiev, Olympiasieger von Rio am Barren, dazu mehrfacher Welt- und Europameister. Doch der Wettkampf zieht sich, wie Kaugummi. Findet auch Rainer Hanschke, früherer Weltklasseturner der DDR, von 1995 bis 2002 Cheftrainer der deutschen Nationalmannschaft, heute immer noch Nachwuchstrainer beim SC Cottbus.
"Die Pausen sind einfach oftmals zu lange, wo in der Halle nichts passiert. Meiner Meinung nach muss man da auch bei diesen ganzen Weltcup-Wettkämpfen nachdenken – da geht es ja um Einzelgeräte – dass man da ein System findet, dass immer Bewegung in der Halle ist für die Zuschauer. Es müsste halt beim Kampfrichter schneller gehen. Die müssten schneller fertig werden, dann geht's auch schneller. Mich persönlich nervt das unheimlich, wenn wir bei Wettkämpfen sind, weiß ich: die brauchen immer ewig mit der Berechnung, und ich stehe mit dem nächsten Turner da, bis es weitergeht."
200 Zuschauer verlieren sich im weiten Rechteck der Cottbuser Lausitz-Arena beim ersten Turnwettkampf der Saison: SC Cottbus gegen die TG Saar.
200 Zuschauer verlieren sich im weiten Rechteck der Cottbuser Lausitz-Arena beim ersten Turnwettkampf der Saison: SC Cottbus gegen die TG Saar. © Deutschlandradio/ Wolf-Sören Teusch
Doch damit nicht genug. Sind die komplizierten Turnpunkte für eine Übung endlich vergeben, werden diese mithilfe eines sogenannten Score-Systems in Mannschaftspunkte umgerechnet. Vier Turner pro Team treten an einem Gerät an. Hat beispielsweise der erste Turner von Mannschaft A 0,325 Turnpunkte mehr für seine Übung bekommen als der erste Turner von Mannschaft B, erhält sein Team dafür 2 Punkte. Die Wertungen der Kampfrichter werden also nochmals interpretiert. Und aus den Lautsprechern in der Halle dudelt die ganze Zeit belanglose Popmusik.
Die Kluft jedenfalls ist enorm – zwischen turnerischen Spitzenleistungen und der komplizierten und teilweise lieblosen Art, in der sie präsentiert werden. Ergebnis: es kommen nicht genügend Zuschauer, es fehlt der Turnnachwuchs. Trotz Turntalentschule in Cottbus, trotz Eliteschule des Sports: das Grundproblem der Gesellschaft kann auch die beste Nachwuchsarbeit nicht beheben: Bewegungsmangel. Etwa die Hälfte aller Deutschen treibt keinen oder nur selten Sport.

Moderator statt Sportler

Christopher Jursch turnt während eines Wettkampfes an den Ringen.
Christopher Jursch turnt während eines Wettkampfes an den Ringen.© dpa picture alliance / Marijan Murat
Christopher Jursch, 24 Jahre alt, war im April für die Europameisterschaft nominiert, musste aber wegen einer Schulterverletzung absagen. Jetzt sitzt er unten in der Halle an einem schmucklosen Tisch, hat ein Mikrofon in der Hand und moderiert den Bundesliga-Wettkampf zwischen seinen Cottbusern und der TG Saar. Zähe drei Stunden dauert es, am Ende gewinnt der Gast mit 38:22.
Christopher Jursch will sich nicht anmerken lassen, dass er genervt ist. Nicht wegen des Ergebnisses, sondern wegen seiner Schulterverletzung. Er muss operiert werden und wird deshalb auch die Deutschen Meisterschaften beim Turnfest in Berlin verpassen. Dabei kann er sich bestens erinnern an das letzte Turnfest 2013. Damals gewann er am Reck gegen Fabian Hambüchen:
"Ja, das stimmt, das habe ich gemacht, vor vier Jahren. Na gut, dass es jetzt ein Turnfest ist, ist eigentlich nicht so 'ne wichtige Rolle. Es ist zwar Turnfest und ist auch nur alle vier Jahre, aber es ist trotzdem die deutsche Meisterschaft. Und das ist ja dann immer noch dieser Wettkampf. Die deutschen Meisterschaften bleiben ja deutsche Meisterschaften."

"Nur" ein Turnfest?

Das Turnfest als eine Veranstaltung unter vielen? Ja, bestätigt Rainer Hanschke. Die Wettkämpfe auf internationaler Ebene hätten weit mehr Bedeutung. Für viele Junioren jedoch ist es das erste Mal, dass sie vor großem Publikum turnen. Der Ex-Bundestrainer hofft, das Turnfest liefert auch Motivationshilfen für den Sportunterricht.
"Wenn ich jetzt in der Schule turne, muss ich ja nicht gleich am Gerät turnen. Ich kann also sehr viel mit dem eigenen Körper machen, ich kann doch mit kleinen Geräten was machen, ob das Seile sind, oder ich kann Hindernisse aufbauen, und das hilft auf alle Fälle, was die Koordination betrifft, was die Körperbeherrschung betrifft, und da sollte man vielleicht ein bisschen umdenken und lieber auf diese Frage gehen, damit man diese Angst ein bisschen nimmt: 'Ich lerne meinen Körper beherrschen'. Beherrschen in verschiedenen Situationen, das muss ja nicht gleich mit und am Gerät sein."
Manch einer mag die Nase rümpfen und spötteln: "Ein Turnfest? Wie antiquiert ist das denn?" Traditionen wie diese seien doch nicht mehr zeitgemäß. Dabei war und ist das Turnfest vor allem eine Veranstaltung des Breitensports. Immerhin die größte ihrer Art weltweit. Und somit eigentlich immer auf der Höhe der Zeit. Reiner Brechtken, Ehrenpräsident des Deutschen Turnerbundes, erklärte im Jahr 2005, worauf es beim Turnfest ankommt.
"Hier geht's ums Mitmachen, hier geht's ums selber tun, hier geht es um sich beteiligen. Wir sind die größte Breitensportveranstaltung, von den 65.000 Turnteilnehmern macht fast jeder in einem Wettbewerb, in einem Wettkampf mit. Das heißt: Wir wollen den Menschen Beispiele geben, 'macht mit!', 'übernehmt selber die Verantwortung für euch selbst', 'geht hinein in die Bewegung', es kostet übrigens auch Anstrengung, es kostet Konsequenz."

Mitmachangebote in der ganzen Stadt

Mittlerweile sind es 80.000 Teilnehmer. Deshalb haben sich die Organisatoren des diesjährigen Turnfestes etwas Besonderes ausgedacht: Mitmachangebote über die ganze Stadt verteilt. In den Schulen und Kiezen. 'Berlin turnt bunt' heißt das Programm. Insgesamt 1.750 Veranstaltungen sind dabei zusammengekommen: Yoga, Fitness, Wandern, Tanz, viel Gesundheitssport. Aber auch Fun-, Freizeit- und Trendsport für die Jüngeren. Zum Beispiel Inlineskaterhockey.
"Ja, ist genau das gleiche wie Eishockey, nur dass man andere Schuhe anhat, ja, Funsport deswegen, es gibt keine Profisportligen bei uns, und es ist einfach alles irgendwie aus dem Funbereich entwachsen, vor 25 Jahren wurde der Sport auf irgendeinem Parkplatz gespielt, oder auf irgendwelchen stillgelegten Straßenstücken, und deswegen ist es wahrscheinlich Funsportbereich."
Inlinescater-Hockey-Spieler vom Tor aus fotografiert
Inlinescater-Hockey ist eine der Funsportarten beim Deutschen Turnfest.© Deutschlandradio/ Wolf-Sören Teusch
Tim Greifzu ist Sportlicher Leiter der Red Devils, einem Inlineskaterhockey-Verein im Südwesten Berlins. Er hat auch schon 2005 seinen Sport beim Turnfest vorgestellt. In einem Fußballstadion weit entfernt vom Heimatkiez. Das brachte nicht viel, sagt er. Aber dieses Mal finden die Schnupperkurse in Grundschulen statt. Und in der eigenen Sporthalle. Dieses Mal erwartet er eine nachhaltigere Wirkung. Das der eine oder die andere dabei bleibt.
"Beim Inlineskaterhockey geht es erst einmal darum, dass man möglichst sicher auf den Inlineskates steht, dass man Balance hat, dass man halbwegs Gleichgewichtsgefühl hat, dass man sich irgendwie koordiniert bewegen kann, das sind so die Geschichten, die wir in Schulen machen, die wir bei 'Schule aktiv' vermitteln wollen, die wir auch bei 'Kiez aktiv' vermitteln wollen, es gibt natürlich immer welche, die völlig unsportlich sind, denen muss man dann auch sagen, 'okay, geht vielleicht erst mal zum Turnen, damit ihr so ein bisschen Körpergefühl bekommt', aber im Grunde genommen ist das alles problemlos."

Integration von Fun- und Freizeitsport

Turnen ist eben nicht nur Turnen. Der Deutsche Turnerbund öffnet sich schon seit langem den neuen Entwicklungen und Freizeittrends im Sport. "Wie bunt ist das denn!" lautet nicht umsonst das Motto des Turnfestes. Tim Greifzu findet das gut – und richtig.
"Funsport ist eine schöne Sache, Turnfest ist ne schöne Sache, warum soll man das nicht kombinieren? Turnfest, da sind ja ganz viele Funsportarten, die sich mal präsentieren, und ich denke, man sollte lieber auf einen Zug aufspringen, der vorbeifährt, anstatt dass man ihn vorbeifahren lässt und irgendwas verpasst."
Der deutsche Turner Fabian Hambüchen.
Der deutsche Turner Fabian Hambüchen.© picture alliance / dpa - Bernd Weissbrod
Zurück im Funkturmrestaurant: Turnlegende Eberhard Gienger ist immer noch da. Obwohl er längst zum nächsten Termin muss. Er hat Spaß daran, übers Turnfest zu plaudern.
"Ansonsten werde ich auch gern in die Hallen gehen, wo die Athletinnen und Athleten meines Kalibers anzutreffen sind, also die Breitensportler, und wenn man mir da ein Reck aufbaut, dann traue ich mich da auch noch mal ran, mache da vielleicht noch einen Salto rückwärts runter, vielleicht auch ein bisschen mehr, wenn die Riemchen, ich habe vorhin schon gesagt, die habe ich auf jeden Fall dabei, und dreh dann vielleicht gern noch mal ne Riesenfelge, das gefällt mir, und das will ich mir auch beim Deutschen Turnfest wieder reinziehen."
Sagt er und zieht dann doch endlich von dannen. Turnfestbotschafter und Reckolympiasieger Fabian Hambüchen freut sich vor allem auf die Stadiongala. Und dann fügt er hinzu: wie 'Ebse' ans Reck hängen werde er sich bestimmt nicht. Vor zehn Wochen ist er an der Schulter operiert worden. Nachfrage eines Reporters: die Riemchen habe er in Berlin also nicht dabei? So wie Eberhard Gienger? Antwort Hambüchen:
"Nein. Der schläft in Riemchen nachts. Der kann ja nicht anders."
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