Inszenierungen für das Ohr

Von Ingo Kottkamp · 03.08.2007
Theater für Blinde, Kino im Kopf: Es gibt viele solcher schiefer Analogien, mit denen das Hörspiel beschrieben wird. Tatsächlich ist das Hörspiel aber weder Theater noch Kino, sondern eine dem Radio eigene Kunstform. Schon in den Anfängen des Radios gab es Versuche, sie zu entwickeln: Pionierarbeit leistete der amerikanische Rundfunksender WGY am 3. August 1922.
Die Rundfunkstation WGY im Städtchen Schenectady im Bundestaat New York: ein ganz normales Formatradio – von Hörspiel keine Spur. Im Jahr 1922 stand WGY als einer der ersten Pioniersender am Anfang des Radiobooms in den USA. WGY war von der Firma General Electric gegründet worden. Das war damals das gängige Modell – man sendete, um Käufer für die Empfangsgeräte anzuziehen. Der Begriff Hörspiel war noch unbekannt: Für das Schauspiel vor dem Mikrofon, das eine lokale Theatergruppe am 3. August 1922 abends um 19 Uhr 45 veranstaltete, musste der passende Name erst gefunden werden. Der Rundfunkhistoriker Lawrence Lichty schreibt:

"Die Schauspieler prägten für ihr Funktheater den Begriff ‚radario’ – abgeleitet aus ‚Radio’ und ‚Szenario’. Sie wollten sogar das Urheberrecht dafür anmelden. Aber ‚Radario’ setzte sich nicht durch, man sprach eher von ‚scetches’."

Gegeben wurde das Melodram "The Wolf" von Eugene Walter, einem heute vergessenen Dramatiker. Zur Truppe gehörten neben Schauspielern, Musikern und Geräuschemachern auch ein "descriptionist". Er fasste Teile des Stücks zusammen; die Darbietung beschränkte sich auf wenige eingängige Szenen und war nach 40 Minuten zu Ende. Dass man sich Hörspiel als knappe und prägnante Unterhaltung vorstellte, stand somit schon ganz am Anfang der amerikanischen Radiogeschichte fest. Über andere Eigenschaften herrschten Missverständnisse, die bis heute nicht ganz verschwunden sind. Eine Zeitung schreibt zur Ursendung von "The Wolf":

"Wer imstande ist, jederzeit eine Theatervorstellung zu besuchen, dem wird das Bild fehlen, um der Geschichte die volle Wirkung zu geben. Gerade auf dem Land gibt es aber Tausende, viele davon blind oder invalide, für die die Unterhaltung aus dem Radio der einzige Lichtblick in ihrer Eintönigkeit ist."

Hörspiel gleich Theater minus Bild – eine zu kurz geratene, aber immer wieder anzutreffende Beschreibung für eine Kunstform, die in ihrer Beschränkung aufs Akustische ganz eigene Qualitäten entwickelt. Ein anderes Ressentiment gegen das Hörspiel findet sich im "Lincoln State Journal" von 1922:

"Für die Agenten der Entertainmentbranche ist das Radio eine Bedrohung. Einige haben ihre Schauspieler angewiesen, auf keinen Fall in ein Mikrofon zu sprechen. Es besteht kein Zweifel, dass das drahtlose Telefon dem gesamten New Yorker Distrikt das Theatergeschäft verdirbt."

Wie immer man es verstand und missverstand: Das Radiotheater wurde beliebt, und andere Sender kopierten sehr schnell die WGY-Station und brachten ebenfalls Reihen mit Theateradaptionen. Den Siegeszug aber trat die neue Form an, als eine Idee aufkam, die das amerikanische Hörspiel grundlegend vom europäischen unterscheidet:

"Auf den Enthusiasmus, den man den Stücken im Radio entgegenbringt, hat eine Zeitung aus San Francisco mit einem Wagnis reagiert: sie bringt ihre Fortsetzungsgeschichte im Radio. Zuschriften von Radiofans aus der ganzen Umgebung zeigen, dass diese ‚serials’ ungemein populär sind."

Serials – das bedeutete, eine überschaubare Zahl von Charakteren zu etablieren und diese immer neue Abenteuer im Radio erleben zu lassen. Solche Serien waren tief im Leben der Hörer verwurzelt – Woody Allens Film Radio Days erzählt davon. Eine der beliebtesten und zugleich skurrilsten Hörspielserien war Amos and Andy. Darin stellten zwei weiße Schauspieler – aber das sah man im Radio ja nicht – die Tolpatschigkeiten zweier Schwarzer aus den Südstaaten dar. Auch das Gruselgenre wurde gerne bedient.

All diese Formen wurden später vom Fernsehen aufgesogen. Als die Hörfunksender sich zu Formatradios umwandelten, starben die Hörspielserien – auch beim WGY, wo sie begonnen hatten. Doch das Internet leitet heute eine Renaissance der alten Klassiker ein. Auf vielen Liebhaberseiten kann man sie wieder hören – wenn auch nicht das erste Hörspiel, von dem es keine Aufnahme gibt. In vielen Ländern hat sich das Hörspiel als innovativ und resistent erwiesen – es ist eben nicht Opas Hörtheater, sondern eine Kunst des Akustischen, die viele Spielarten hervorbringt. Vielleicht bringt das neue Medium Internet dieses Genre zurück in das Land, wo es seine ersten Gehversuche gemacht hat.