Initiative gegen Antisemitismus im Internet

Von Jürgen Stratmann · 08.11.2005
Im Gegensatz zu einem Lexikon generiert die Recherche im Internet bei bestimmten Suchbegriffen eine Vielzahl von schwer nachprüfbaren Definitionen und Bedeutungen. Insbesondere antisemitische Kreise können so von der zuweilen diffusen Unschärfe historischer oder politischer Begriffe profitieren. Um das zu verhindern, startet jetzt ein Gemeinschaftsprojekt von AOL und dem jüdischen Museum in Berlin.
"Jeder, der sich mit dieser Szene beschäftigt, sagt: Sie sind technologisch avanciert..."

...warnt Professor Klaus Siebenhaar, Leiter für Entwicklung & Marketing des Jüdischen Museums Berlin. Die Medienkompetenz und Medienpräsenz der rechtsradikalen Szene sei nach wie vor nicht zu unterschätzen - und dass habe in diesen Kreisen eine lange Tradition:

"Auch die Nationalsozialisten waren ja auf dem neuesten Stand und hinter all dem Deutschtümelnden haben sich damals modernste Technologie, was Kommunikation betrifft, auch Vernetzung und oder Vertriebssysteme verborgen."

Dem müsse man etwas entgegensetzen - wenn es auch unwahrscheinlich ist, das Otto-Normalnutzer auf den ausgetretenen Pfaden der alltäglichen Internetrecherche rein zufällig in den Unflat kreativer Geschichtsumdeuter vom Schlage Horst Mahlers, Ursula Haverbecks oder Ernst Zündels tappt. Die tumben Tiraden missionsfreudiger Antisemiten muss man im Netz schon wirklich suchen - und dann weiß man auch, womit man es zu tun hat.

Bei dem heute startendenden Aufklärungsprojekt von AOL und dem Jüdischen Museum soll es darum auch nicht nur um die üblichen Verdächtigen gehen:

"Wir haben nicht nur die bösen, bösen Begriffe aus dem Giftschrank der Geschichte gewollt, sondern auch ganz harmlose, bzw. solche Begriffe die durchaus positiv sind und die natürlich auch zur Arbeit des Museums dazugehören, wie "jüdisch" oder "Jom Kipur", also Feiertage aus dem jüdische Leben."

Zum Projektstart hat AOL zunächst eine Liste von 115 Begriffen mit der Website des jüdischen Museums verlinkt. Gibt man Suchbegriffe wie Anne Frank, Arisierung oder Antisemitismus, Mesusa, Mischpoke oder Moses - oder auch Rassismus, Reichskristallnacht oder Rothschild ein, wird man künftig virtuell sofort eine Tür weitergeschickt...

" ...dann hat man darunter sofort nicht nur die Website, sondern informieren sich über unser Kolloquium oder unsern Workshop - also alles, was wir zu diesem Thema haben, wird dort präsentiert."

Wobei die Initiative keineswegs prohibitive Absichten hat:

"Das heißt, es wird nicht die Moralkeule benutzt oder - klick- dieses böse Wort weg, sondern: Wir setzen uns drauf! AOL hat sich zur Aufgabe gemacht, mehr Sicherheit für den Nutzer zu schaffen, und so ´ne aufklärerische Gegenbewegung zu initiieren."

The Big Evil - diesen Ehrentitel hat AOL sich einst auch deshalb erworben, weil sich der Online-Anbieter immer ganz besonders aktiv um Neukunden bemüht hat - nun warnt der große Böse, geläutert und besorgt, vor den Fährnissen und Fallstricken des Internets. Eine schöne Sache, oder?

" Das ist ein großzügiges Angebot von AOL; und man kann sich dazu verhalten, wie man will, wir finden's gut, - auch wenn das nur ein kleiner Tropfen auf den heißen Stein ist..."

...denn 115 Begriffe sind wahrhaftig noch kein Lexikon...

" ...aber wir sind aufgefordert, noch weitere zusammenzutragen, sodass das ´ne Art "Work in Progress" ist."

Jürgen Schmidt, leitender Redakteur der Computerzeitschrift "ct", sagte im Feuilletongespräch von Deutschlandradio Kultur, das Projekt sei "ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, problematische Inhalte nicht mit der Moralkeule zu bekämpfen, sondern in aktiver Art und Weise, demokratischen Traditionen folgend sich mit den Inhalten auseinandersetzen, statt vergeblich zu versuchen, das Zeug komplett aus dem Netz zu bekommen". Zensurbemühungen im Internet seien "in der Regel erfolglos". Sie können das Interview mit Jürgen Schmidt über den folgenden Audio-Link hören:

Interview mit Jürgen Schmidt zum Projekt des jüdischen Museums und zu Zensurbemühungen im Internet