Im Strudel der Skandale

Christliche Kirchen am "toten Punkt"?

53:42 Minuten
Eine Frau sitzt alleine auf einer Kirchenbank und wird von einem Lichtstrahl, der durch Fenster fällt, angestrahlt.
Gutes dürfe nicht mit dem Schrecklichen verrechnet werden, das in der katholischen Kirche passierte, wird in der Diskussion des "Wortwechsels" betont. © imago / photothek / Ute Grabowsky
Moderation: Birgit Kolkmann |
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Angesichts der missglückten Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs katholischer Geistlicher an minderjährigen Schutzbefohlenen sieht Erzbischof Kardinal Reinhard Marx seine Kirche an einem "toten Punkt" und fordert umfassende Reformen.
Nachdem Papst Franziskus das Rücktrittsgesuch von Erzbischof Kardinal Marx abgelehnt hat, sagt der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, Matthias Kopp, im "Wortwechsel", die Bischofskonferenz sei "froh", dass Kardinal Marx nun "weitermachen" müsse. Der unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, sieht in Marx "eine starke Kraft, um unabhängige Aufarbeitung in der katholischen Kirche umzusetzen".

Gemeinden sind nicht am "toten Punkt"

Die frühere Ratspräsidentin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, sieht die katholische Kirche nicht an einem "toten Punkt" angekommen. Käßmann weist auf die Arbeit vieler lebendiger katholischer Gemeinden hin:
"Es tut mir leid für die Katholikinnen und Katholiken vor Ort, die wacker in ihren Gemeinden Seelsorge betreiben, unter sehr schwierigen Umständen oft Gottesdienste aufrechterhalten, sich im besten Sinne um die Schwachen, auch um Kinder kümmern, wo Vertrauen möglich ist. Um die tut es mir leid, weil die sind an einem Punkt, an dem sie sehr belastet sind durch die öffentlichen Debatten um diesen unfassbaren Missbrauch, auch in der evangelischen Kirche."
Dem stimmt Kopp zu und sagt: "Natürlich ist der Missbrauchsskandal ein gigantischer Skandal, der uns in eine der tiefsten Kirchenkrisen geführt hat, aber gleichzeitig wird Großartiges in den Gemeinden geleistet und da haben wir keinen 'toten Punkt'. Da haben wir sogar eine erstaunlich gute Lebendigkeit."

Vergiftete Strukturen

Die Redakteurin für Religion und Gesellschaft im Deutschlandfunk, Christiane Florin, warnt jedoch davor, das Positive, was in den christlichen Kirchen getan werde, mit dem Schrecklichen, was an Missbrauch passiert sei, zu "verrechnen":
"Die Tatsache, dass in beiden Kirchen sehr viel Gutes geschieht, dass dort auch gute Leute arbeiten, ehrenamtlich oder hauptamtlich, die kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Strukturen vergiftet sind. Ich glaube, man muss sich dieser Vergangenheit wirklich stellen und auch wirklich aussetzen."
Auch Käßmann betont, das Leid der Opfer von Missbrauch sei "mit nichts zu verrechnen".

"Politik geriert sich oft als Zaungast"

Der unabhängige Bundesbeauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, fordert die Einführung einer "gesetzlichen Berichtspflicht" seines Amtes: "So könnte die parlamentarische Kontrolle meines Erachtens gut ausgeübt werden und es gebe einen politischen Diskurs."
Die Politik sei "insgesamt viel zu zurückhaltend", auch was die Forderung nach umfassender Aufarbeitung angeht. "Politik geriert sich da oft als Zaungast, ist erschüttert und empört, aber konstruktive Vorschläge habe ich in den letzten Jahren weder mit Fernglas noch mit Lupe gefunden."

Politik muss Kirche mehr konfrontieren

Florin kritisiert, dass politische Vertreter gegenüber den Kirchen auch beim Thema Missbrauch versuchten, ein "kooperatives Verhältnis" zu wahren. Sie fordert mehr staatliche Kontrolle ein. "Beim Thema Missbrauch ist doch Kooperation völlig falsch. Da braucht man doch Konfrontation, um irgendetwas rauszufinden."
Rörig verweist darauf, dass es in Deutschland kein "Kirchenprivileg für sexuellen Missbrauch" gebe. "Wenn Missbrauch noch nicht verjährt ist und das der Staatsanwaltschaft, der Polizei bekannt wird, dann wird ermittelt, dann wird durchsucht, dann wird beschlagnahmt. Da gibt es kein Sonderrecht der Kirche. Die Frage ist bezogen auf so eine Wahrheitskommission, kann man proaktive Ermittlungsrechte auf Dritte übertragen und das ist verfassungsrechtlich im Moment nicht möglich und dafür sehe ich keine politische Mehrheit im Deutschen Bundestag."
(ruk)

Es diskutieren:
- Margot Käßmann, ehemalige EKD-Ratspräsidentin
- Christiane Florin, Redakteurin für Religion und Gesellschaft im Deutschlandfunk
- Johannes-Wilhelm Rörig, unabhängiger Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs
- Matthias Kopp, Pressesprecher der Deutschen Bischofskonferenz

Ein Gespräch mit dem früheren Benediktinermönch und heutiger Unternehmensberater Anselm Bilgri über den abgelehnten Rücktritt von Kardinal Marx in der Sendung Religionen [ AUDIO ].

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