Im Schatten der Kubakrise

Von Gerhard Klas · 20.11.2012
Der indisch-chinesische Grenzkrieg im Herbst 1962 war eine Machtdemonstration Chinas. Nach seinem Ende war auch das zumindest von indischer Seite aus gepflegte Projekt einer Völkerfreundschaft zwischen den regionalen Großmächten beerdigt.
Im Herbst 1962 kämpften 30.000 chinesische Soldaten der Volksbefreiungsarmee gegen 6000 hoffnungslos unterlegene Inder. In den Bergen des Himalaja, auf über 4000 Höhenmetern, hatten sie sich bei bitterer Kälte heftige Gefechte geliefert. Der Krieg endete nach nur einem Monat in der Nacht vom 20. auf den 21. November mit der Erklärung des einseitigen Waffenstillstandes durch China. Die chinesische Volksbefreiungsarmee hatte die indischen Bataillone im Grenzgebiet geschlagen und ihre militärische Überlegenheit deutlich unter Beweis gestellt. Nun, nachdem die Sowjetunion, die USA und Großbritannien Indien militärische Hilfe zugesagt hatten, zog sie sich wieder zurück. Damals kommentierte der Deutschlandfunk:

"Es ist nicht wahr, dass der Angriff wie der Blitz aus heiterem Himmel kam. Er hat vielmehr eine lange Vorgeschichte."

Der Konflikt um die ungeklärten Gebietsansprüche im Himalaja rührte noch aus der Grenzziehung, die von den britischen Kolonialherren mit den Anrainerstaaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgehandelt worden war. Aber seitdem hatte sich in der Region mit der indischen Unabhängigkeit 1947 und der Ausrufung der Volksrepublik in China 1949 viel verändert. Die alten Verhandlungsergebnisse wurden neu interpretiert und infrage gestellt. Zunächst jedoch spielte der Grenzkonflikt keine Rolle und Indien war unter den ersten Staaten, die diplomatische Beziehungen mit dem revolutionären China aufnahmen.

Es kam erst zu nennenswerten Dissonanzen, als die chinesische Armee 1959 den Aufstand in Tibet niederschlug, Neu-Delhi dem Dalai Lama Asyl gewährte und Truppenverbände in die nördlichen Grenzregionen entsendete - was wiederum in Peking als begründete Bedrohung aufgefasst wurde. Denn Indien setzte fortan auf eine sogenannte Vorwärtsstrategie und stellte militärische Posten hinter der von China beanspruchten Grenzlinie auf.

Mao Zedong, der chinesische Revolutionsführer, verglich diese allmähliche Landnahme Indiens mit einem Schachspiel:

"Was sollen wir tun? Wir können auf unserer Seite der Grenze ein paar Bauern aufstellen. Wenn die Inder die Grenze nicht überschreiten, ist das großartig. Wenn sie es tun, dann werden wir sie auffressen."

Noch 1954 hatten die beiden Großmächte in einem Abkommen die gegenseitige Achtung der territorialen Integrität und den Verzicht auf militärische Aggressionen festgeschrieben, kulturellen Austausch und freundschaftliche Beziehungen gepflegt. Vor allem Jawarhalal Nehru, der erste indische Premierminister, hatte als einer der Begründer der Bewegung der Blockfreien Staaten versucht, sich der militärischen Logik der Aufrüstung im Kalten Krieg zu entziehen und auf eine enge Bindung zwischen China und Indien gesetzt. Aber die proklamierte "friedliche Koexistenz" war mit den militärischen Auseinandersetzungen endgültig beendet.

Nehru, der später selbst seine Einschätzung der chinesischen Politik als "Irrtum" bezeichnete, nannte den Grenzkrieg einen "Wendepunkt in der Geschichte" und erwies sich dabei schon 1964 als äußerst weitsichtig:

"China hat außerordentliche Fortschritte gemacht und wäre durchaus in der Lage, eines Tages die Rivalität mit den heutigen Weltmächten aufzunehmen."

Der Anfang vom Ende der Bewegung der Blockfreien Staaten, die Indien, Indonesien, Ägypten, Jugoslawien sowie weitere 19 afrikanische und asiatische Länder gegründet hatten, war eingeläutet: Einige Bündnisstaaten hatten den Angriff der chinesischen Volksarmee nicht eindeutig verurteilt, die Glaubwürdigkeit der Bewegung war beschädigt. Ganz anders die alte Kolonialmacht Großbritannien und die USA: Sie stellten sich auf die Seite Indiens und wollten den jungen unabhängigen Staat als Bollwerk gegen das kommunistische China ins westliche Bündnis einbinden.

Aber ihr Kalkül ging nicht auf. Nehru betonte zwar immer wieder, seine Lektion gelernt zu haben. Er stockte auch das indische Rüstungsbudget auf, hielt aber Distanz zum Westen und unterhielt gute Beziehungen zur Sowjetunion. Eine Annäherung an den Westen fand erst lange nach dem Tod Nehrus mit dem Zusammenbruch des Ostblocks statt. Seit 2001 gab es mehrere Dutzend gemeinsame Militärmanöver der indischen und US-amerikanischen Armee in Asien. Pekings Antwort darauf: gemeinsame Militärmanöver mit Russland.