"Ich komme aus einer anderen Welt"

Von Claudia Kuhland · 25.07.2005
Die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates hat knapp 40 Romane geschrieben. Regelmäßig ist sie für den Nobelpreis im Gespräch. Über sich selbst gibt sie wenig Auskunft. Eine Ausnahme verspricht ihr neues Buch "Ausgesetzt", in dem sie ihren Weg aus einfachen Verhältnissen beschreibt.
Der weiße Bungalow liegt wie geduckt hinter einer hohen Hecke, einige Meilen außerhalb von Princeton. Joyce Carol Oates steht in der Tür: schlank, fast mager, in einem eng anliegenden roten T-Shirt, kurzem Hosenrock, die durchtrainierten Beine stecken in weißen Seidenkniestrümpfen mit pastellfarbenen Blumengirlanden. Freundlich aber distanziert blickt sie uns aus ihren riesigen braunen Augen an. Diese Frau ist ein Rätsel und ein Phänomen.

Joyce Carol Oates hat in 67 Lebensjahren rund 100 Bücher geschrieben, darunter knapp 40 Romane, regelmäßig ist sie für den Nobelpreis im Gespräch. Über sich selbst gibt sie gemeinhin wenig Auskunft. Eine Ausnahme von der Regel verspricht ihr neuer Roman "Ausgesetzt".

Joyce Carol Oates: " Ich schreibe eigentlich nie über mich selbst, dieser Roman ist eine Ausnahme. Ich hatte das Gefühl, dass ich an einem bestimmten Punkt in meinem Leben auf mein jugendliches Ich mit einer gewissen Distanz, ja mit Vergeben blicken konnte. So habe ich einen Roman geschrieben, der eigene Erfahrungen aufgreift, meine Gefühle und Gedanken, der aber eine fiktive Geschichte erzählt. Da es schwierig für mich war, über mich selbst zu schreiben, habe ich daraus eine eher komische Figur gemacht, der allerhand Abenteuer passieren und die schreckliche Fehler begeht. "

Diese seltsame junge Dame, die sich irgendwann Annelie nennt, zieht Anfang der Sechziger Jahre in eine konservative Studentinnenverbindung. Wie Joyce Carol Oates, die in der Syracuse University Literatur und Philosophie studierte. Annelia fühlt sich denkbar unwohl. Sie will sein wie die anderen, ein unbeschwertes College Girl. Aber sie muss sich ihr Studium vom Mund absparen und sie ist ein Bücherwurm, eine Spitzenstudentin mit starken Noten und schwachen Nerven, eine Einzelgängerin, verloren in einer Studentenwelt fröhlicher Oberflächlichkeit.

Joyce Carol Oates: " Ich war mit einer Gruppe von Mädchen zusammen, die sich nicht im Geringsten für Bücher oder Geistiges oder wenigstens für Collegekurse interessierten. Ich fand Lesen und Philosophie aufregend und versuchte, eine Schriftstellerin zu sein. Ich wollte eine junge intellektuelle Frau zeigen, deren Idealismus sich an der Wirklichkeit reibt. Sie ist so romantisch und hat all diese nicht zu vereinbarenden Ideen, die ich auch hatte, wie ich zugeben muss. "

So irrt Oates Ich-Erzählerin einsam über den Campus und verliebt sich unglücklich in einen brillanten, schwarzen Kommilitonen. Auf dem Weg zur Selbstfindung muss sie allerlei Hindernisse überwinden: Schlafstörungen, Nervenzusammenbrüche und die Verachtung der anderen Studentinnen.

" Sie ist ungewöhnlich masochistisch, ich glaube nicht, dass ich so masochistisch bin. Aber viele Schriftsteller entwickeln eine Art Passivität, die vielleicht kein Masochismus, aber eine Bereitschaft ist, sich demütigen zu lassen in der Hoffnung, dadurch irgendetwas anderes erreichen zu können. Ich habe viel über Boxen geschrieben. Wenn ein Boxer einen Schlag kassiert, dann stachelt ihn das an. Die guten Boxer kämpfen am besten, nachdem sie verletzt wurden. "

Oates schreibt von Irrungen und frühem Liebesleid. Sie tut dies wie keine andere: stilsicher, temporeich, psychologisch versiert. Den Fundus für diese Abgründe der Seele liefert die schwierige Kindheit der Hauptfigur, mit deutlichen Parallelen zu Oates eigener Biographie. Es braucht wohl die arme, ländliche Herkunft der kleinen Joyce um die große Oates zu verstehen.

" Ich lebe in Princeton, aber das ist nicht meine Welt. Ich komme aus einer ganz anderen Welt. Meine Kindheit war ziemlich komplex. Meine Eltern stammen beide aus armen, gebrochenen Familien. Und ich stehe meinen Eltern sehr nahe. Es ist fast so, als hätte ich einige ihrer dramatischen Erlebnisse absorbiert. Mein Elternhaus war in Ordnung, aber ich wuchs in einer sehr armen Umgebung auf. Und die Art und Weise, wie Frauen und Mädchen behandelt wurden, war alles andere als bürgerlich. Dinge wie Sexualverbrechen, Belästigungen oder Vergewaltigungen passierten einfach, täglich, ohne dass darüber gesprochen wurde. Es gab dafür keine Sprache. "

Schon die kleine Joyce lässt sich nicht unterkriegen. Sie schreibt Geschichten, seit sie einen Stift halten kann. Verarbeitet Belästigungen durch raue Jungs, kultiviert ihre literarische Begabung mit großem Eifer. Bis heute erzählt Joyce Carol Oates aus der Sicht der Opfer von Gewalt, unermüdlich, unvergleichlich. Und ist mit den Jahren nur freier, verspielter, experimentierfreudiger geworden. Im Rentenalter schreibt die mittlerweile 67-Jährige gar Jugendromane, dramatische Teenagergeschichten.

" Wenn man 14 oder 15 ist, ist die Persönlichkeit völlig diffus. Die Gefühle gehen rauf oder runter. Teenager sind sehr glücklich und sehr traurig, ekstatisch, deprimiert. Sie sind wütend oder melancholisch, sie schlafen zehn Stunden oder sie können gar nicht schlafen, rennen rum. Es ist eine Zeit, in der die Gefühle sehr flüchtig sind und damit kann ich mich gut identifizieren."

Joyce Carol Oates ist immer für eine Überraschung gut. Irgendwann hat die Frau, die eher ausschaut wie ein Bücherwurm das Laufen begonnen. Mittlerweile joggt sie täglich. Dabei und beim Spazieren gehen kommen ihr die besten Ideen. Aber ein Rätsel bleibt: wieso schreibt sie nur so viel und wie schafft sie es, dabei weiterhin Qualität abzuliefern?

" Es kommt mir merkwürdig vor, als Vielschreiberin zu gelten, denn ich schreibe sehr langsam und korrigiere dauernd. Ich weiß selber nicht, wann ich all die Seiten schreibe. Da muss es ein Rätsel geben. Ich sagte jüngst noch zu meinem Mann: Ich arbeite so hart, so langsam, frustrierend und unbefriedigend. Aber ein Buch entsteht und dann schaue ich um mich und sehe all diese Bücher und ich verstehe gar nicht, wie ich das gemacht habe."

Bei aller Selbstironie, bisweilen wirkt Joyce Carol Oates ein wenig abwesend. So, als spräche sie nicht wirklich über sich selbst. Oder als wäre sie in Gedanken bereits bei ihrem nächsten Buch. Denn Ausruhen kommt nicht in Frage.

" Oh, ich arbeite natürlich unentwegt, weil ich nichts geschafft kriege. Wenn ich wie Mozart, schnell am Morgen leichthin diese wundervollen Melodien niederschreiben könnte, dann könnte ich den Rest des Tages frei nehmen. Aber wenn man nichts geschafft kriegt, muss man halt Tag und Nacht arbeiten. "