Hansestadt Stralsund

Raus aus dem Schatten Rügens

Farbenprächtig zeigt sich am 30.12.2013 der Himmel über der Silhouette der Hansestadt Stralsund, aufgenommen von der Insel Rügen aus.
Der Sonnenuntergang über Stralsund © dpa-Zentralbild/Stefan Sauer
Von André Hatting · 13.09.2017
Einst fuhren Besucher nach Stralsund, um die Fähre nach Hiddensee zu nehmen. Die Hansestadt gehört zu den wenigen Orten Mecklenburg-Vorpommerns, in denen die Bevölkerungszahl steigt. Wir haben herausgefunden, warum.
Dienstagmorgen am Hafen von Stralsund. Möwen kreisen am klaren Frühherbsthimmel. Es duftet nach geräuchertem Fisch.
Der Dampfer nach Hiddensee legt gerade ab. Die Fährverbindung zur idyllischen Ostseeinsel war zu DDR-Zeiten für viele der wichtigste Grund, nach Stralsund zu kommen. Das hat sich gründlich geändert. Heute reisen immer mehr Besucher an, um hier zu bleiben und die vielen Schätze der Hansestadt zu entdecken. Zum Beispiel das Ozeaneum. Europas Museum des Jahres 2010 liegt auf der Hafeninsel, nur einen Steinwurf vom Hiddenseeanleger entfernt. Herzstück ist ein riesiges Rundbecken. Neun Meter tief, siebzehn Meter Durchmesser, 2,6 Millionen Liter Wasser. Gleich von zwei Ebenen aus können die Besucher Sandtigerhai Niki und seinen vielen Freunden zuschauen.

UNESCO-Weltkulturerbe

Aber Harald Benke, Walforscher und nebenbei Geschäftsführer des Ozeaneums, hat noch einen Superlativ in petto. Wir stehen jetzt in einer Halle im Erdgeschoss. Von der Decke hängen Modelle eines Orcas, Pottwals und Blauwals.
"Das ist die weltweit größte Ausstellung mit lebensechten, lebensgroßen Walen, die Sie nicht in Tokio finden, nicht in London und nicht in Paris. Da müssen Sie hierherkommen nach Stralsund ins Ozeaneum."
Und die Menschen kommen. In Scharen. In diesem Sommer wurde wieder der Rekord geknackt. Über neuntausend Besucher an einem Tag!
Direkt hinter dem Museum führt der Weg in die Altstadt, über Kopfsteinpflaster durch schmale mittelalterliche Gassen, gesäumt von Giebelbauten der Backsteingotik. Deren beeindruckendster Vertreter ist das Rathaus am Alten Markt. Das Wahrzeichen der Stadt aus dem 13. Jahrhundert gehört zu den schönsten Bauten des gesamten Ostseeraums. Spätestens jetzt wird klar, warum die Stralsunder Altstadt zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört. Hier auf dieser Altstadtinsel, umringt vom Strelasund und drei Teichen, eingerahmt von prachtvoller Archtektur bekommt man Lust auf eine Reise. In die große Zeit der mächtigen Hanse. Andreas Neumerkel vom Stadtarchiv ist dafür genau die richtige Begleitung. Neumerkel hat ein geradezu enzyklopädisches Wissen über seine Stadt. Ich treffe ihn im Rathaus. In seinem Lieblingsraum.
"Das ist der Bürgermeistersaal. Hier saß das bürgerschaftliche Kollegium. So nannte man das früher. Und man hat dann Bürgermeisterbilder hier aufgehängt. Seit um 1500 hat man von den Bürgermeistern und Ratsherren Bilder gemalt. Und die hängen hier. Es sind ungefähr siebzig Bilder, die die Stadt besitzt. Das ist die reichste Bildersammlung an Bürgermeistern und Senatoren überhaupt in einer Stadt."
Heute heißt das "bürgerschaftliche Kollegium" nur noch knapp Bürgerschaft. Die tagt gleich nebenan, im Löwenschen Saal. Mit tollem Blick auf den Alten Markt. Genau hier, im Löwenschen Saal, haben die Hansestädte mit Dänemark den "Stralsunder Frieden" geschlossen. Die Originalurkunden von 1370 liegen bei ihm im Archiv, sagt Andreas Neumerkel. Sie sind sein persönlicher Lieblingsschatz. Dann fügt er mit Verve etwas hinzu, das Lübecker gar nicht gern hören werden:
"Seit dieser Zeit, seit 1370 ist eigentlich Stralsund die mächtigste Hansestadt überhaupt. Ich nehme nur ein Beispiel, die Marienkirche, die größte Pommersche Kirche. Die Marienkirche hatte einen Turm von 150 Metern. Das war über hundert Jahre das höchste Bauwerk der Welt! Das muss man mal bedenken, ja? Das hatten sich die Stralsunder leisten können. Sie hätten ihn auch niedriger bauen können, aber sie wollten ihre Macht zeigen, ihre Größe."

Halbierte Arbeitslosenquote

Mit der Größe der Hanse verschwand allmählich auch die Stralsunds. Viel später, zum Ende der DDR wäre es dann fast zur Katastrophe gekommen: Große Teile der historischen Altstadt sollten aberissen werden. Platte statt Gotik. Aus Geldmangel und Materialnot. Die Wende war ein Glücksfall, sagt Alexander Badrow. Der CDU-Politiker ist seit 2008 Oberbürgermeister der Hansestadt. In seine Amtszeit fällt die zweite Beinahe- Katastrophe. Die Schließung der Werft. Sie war jahrzehntelang Stralsunds wirtschaftliches Wahrzeichen. In letzter Sekunde konnte ein malaysischer Investor gefunden werden. Er lässt nun unter anderem in Stralsund Kreuzfahrtschiffe bauen:
"Also wir hatten hier mal 7000 Menschen, die auf der Werft gearbeitet haben. Zwischenzeitlich ist es mal auf 250 Arbeitnehmer zurückgegangen. Insofern ist es ein Rieseneinschnitt. Aber mental ist die Werft und das Schiffebauen immer noch ein Riesenthema. Und es ist wirklich ein Glücksgrifff für uns alle, dass es eben möglich ist, jetzt wieder Schiffe zu bauen. Obwohl die Situation natürlich auf dem Markt schwierig ist. Aber was die Kreuzfahrtschiffe angeht, da ist der Markt da und da haben wir ein Riesenwachstumsmarkt weltweit."
Wachstum, das ist das Stichwort. Jahr für Jahr steigt nicht nur die Zahl der Übernachtungen. Der Tourismus boomt in Stralsund. Auch finden immer mehr Menschen einen Job. Die Arbeitslosenquote hat sich in den letzten zehn Jahren von 26 Prozent auf 13 halbiert, sagt Badrow. Nicht selbstverständlich in der wirtschaftsschwachen Region Vorpommern-Rügen. Das Wachstum spiegelt sich auch in der Bevölkerungszahl wider.
"Es ist natürlich so, dass viele, die diese Stadt sehen, dass sie hier mal im Urlaub waren, sich dafür entscheiden zu sagen: Mensch, an so einem schönen Standort will ich leben, will ich alt werden, will ich mit meiner Familie leben."
So wie Alexander Badrow selbst. Der Oberbürgermeister ist gebürtiger Sachse.
"Und tatsächlich ist es so, wir hatten Prognosen, die sahen uns eher bei 53.000 Einwohnern. Wir werden, Ende dieses Jahr, Anfang nächstes Jahr, die 60.000 jetzt sehen. Und Ziel ist, da wollen wir hin, 70.000 Einwohner für Stralsund."
Mehr zum Thema