Härtere Strafen - und was sonst?

Von Peter Lange · 05.01.2008
Wenn Politiker ein von den Medien aufgeworfenes Thema zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte machen, dann ist das in Ordnung. Und wenn diese Debatte an einem besonders empörenden Einzelfall hochgezogen wird, ist auch dagegen nichts einzuwenden.
Auch wenn der betreffende Politiker das Thema im Wahlkampf ausschlachtet um taktischer Vorteile willen in einer Position, in der er sich in der Defensive wähnt – geschenkt. So läuft das nun mal in der Stimmungsdemokratie. Jeder halbwegs Kundige weiß, dass die Bekundungen des Roland Koch nicht zum Nennwert zu nehmen sind.

Hier jedoch beginnt das Problem. Jugendkriminalität ist ein ernstzunehmendes Thema. Wie die Law-and- Order-Politiker es angehen – mit dem verengte Blick auf straffällig gewordene jugendliche Migranten und dem reflexhaften Ruf nach höheren Strafen – das belegt nur, dass sie das Thema nicht ernst nehmen, sondern nur für taktische Zwecke ausschlachten. Würden sie es ernst nehmen, müssten sie sich als erstes mit den Ursachen befassen und kämen womöglich zu Ergebnissen, die die eigene Politik der letzten 30 Jahre radikal in Frage stellen würde.

Es gibt in Deutschland in der Gruppe der unter 18-Jährigen einen erheblichen Teil von Menschen, die sich selbst als Verlierer sehen, mit einem überproportional großen Anteil von Migranten – frühzeitig aussortiert und deshalb ohne brauchbare Ausbildung, ohne Selbstwertgefühl, ohne Vorbilder, ohne Teilhabe-Chancen und angewiesen auf staatliche Transferzahlungen. Ob Unterschicht, Proletariat, Subproletariat, Prekariat – der Streit um die angemessene Bezeichnung ist müßig. Sie sind abgehängt und haben nicht zu Unrecht das Gefühl, dass sie in einer Gesellschaft keine Rolle spielen, in der sich die Politik vor allem um die Belange und Interessen der alten und neuen Mitte kümmert.

Nicht dass damit irgendetwas gerechtfertigt werden soll: Aber das einzige Mittel, sich in der eigenen Gruppe, aber vor allem gegenüber der bürgerlichen Mitte Respekt und zu verschaffen, ist aus ihrer Sicht die Brechung von Regeln und Normen und vor allem die Verletzung des letzten halbwegs wirksamen Tabus: handgreifliche physische Gewalt. Vor nichts haben die besser situierten Mittelschichten mehr Angst, und deshalb funktioniert die mediale Mobilisierung der Bürgerängste ja bei solchen abscheulichen Vorfällen wie in München besonders gut.

Die Politik reagiert seit Jahren mit der Forderung nach neuen Gesetzen und härterer Repression. Nun, neue Gesetze gibt es umsonst, ihre Umsetzung ist es, die Geld kostet. Da spätestens scheiden sich die Geister. Und die Politik fordert vor allem von den Migranten, sie sollen sich gefälligst integrieren. Abgesehen davon, dass die Desintegration auch wesentliche Teile der deutschen Bevölkerung an den Rand gedrückt hat, stellt sich die Frage des Integrationswillens zunächst an die Mittelschichten. Denn jedem Prozess der Desintegration geht die Ausgrenzung voraus.

Wir haben z.B. ein Schulsystem, das nicht nach Stärken sucht und fördert, sondern nach Schwächen fahndet und aussiebt – übrigens auf Betreiben besonders von Mittelschichten-Eltern. Und wenn aufgeklärte Eltern das Multi-Kulti-Flair in Kreuzberg genießen, spätestens mit der Schulpflicht der Kinder dann aber in die bürgerlichen Bezirke ziehen, dann ist das individuell verständlich. Aber es fördert die Desintegration unter den Augen einer überforderten Politik, die dagegen nie ein Rezept gefunden hat.

Es gibt Stadtteile wie Chorweiler in Köln oder die Gropius-Stadt in Berlin oder die Neue Vahr in Bremen, die alle einmal vorzeigbare städtebauliche Projekte für Mittel- und Kleinbürgertum waren. Sie sind gekippt nicht allein, weil so viele Ausländer hinzogen, sondern auch, weil die Deutschen wegzogen und danach die Viertel sich selbst überlassen wurden. Als die Ressourcen der Kommunen besonders notwendig waren, wurden sie abgezogen.

Die soziale Entmischung ist hauptsächlich von den bürgerlichen Mittelschichten betrieben worden, sie sind immer stärker zu einer geschlossenen Veranstaltung geworden, die neuerdings schon an den Vornamen der Kinder identifizieren kann, wer zu ihr gehört, wer reingelassen wird und wer nicht. In dieser Art von Klassengesellschaft gibt es keine Verbindungen mehr in die Unterklasse. Wie es unten zugeht, vermittelt uns allenfalls noch die Super-Nanny im Fernsehen.

Wenn sich diese Gesellschaft nicht bald besinnt und sich öffnet, wenn sie nicht endlich Integration erleichtert anstatt immer neue formale und informelle Barrieren aufzubauen, wenn die Desintegration nicht gestoppt wird, dann geht dieses Land schweren Zeiten entgegen, denen auch mit härteren Strafen nicht zu begegnen ist. Die sind eine vielleicht notwendige, aber keinesfalls eine hinreichende Bedingung.

Und sollte die Debatte wie so viele andere nach den Wahlen versanden, dann wäre dies der Beleg, dass sie eben wieder nicht ernst gemeint war.