Gift aus Seveso

Von Regina Kusch · 19.05.2008
Am 19. Mai 1983 wurden in Frankreich 41 Fässer mit dioxinverseuchtem Schlamm gefunden, nach denen man seit einem halben Jahr in weiten Teilen Europas gesucht hatte. Der Schlamm war im italienischen Seveso bei der Explosion einer Chemiefabrik verseucht und dann illegal zur Entsorgung nach Frankreich gebracht worden.
Hier ist das Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. Die verschwundenen 41 Fässer mit dem hochgiftigen Dioxin aus Seveso sind in Nordfrankreich gefunden worden. Der Staatsanwalt von St. Quentin bestätigte heute, dass die Fässer auf dem nicht benutzten Grundstück eines alten Schlachthofes der Gemeinde Anquilcourt gelagert sind.

Die 41 Fässer mit dioxinverseuchtem Schlamm, die am 19. Mai 1983 wieder auftauchten, waren über ein halbes Jahr spurlos verschwunden. Sie stammten aus jener Chemiefabrik im italienischen Seveso, in der im Juli 1976 eine der größten Umweltkatastrophen der Geschichte stattgefunden hatte. Dabei war in großen Mengen das hochgiftige Dioxin TCDD freigesetzt worden und hatte nicht nur das Fabrikgelände, sondern auch die umliegenden Dörfer verseucht. Die Konzerne Hoffman La Roche und Mannesmann Italiana waren verantwortlich für die Entsorgung des Giftmülls. Doch sie delegierten den Auftrag weiter an zwielichtige Subunternehmen in der Schweiz und in Frankreich und beteuerten anschließend, nichts über den Verbleib der Giftfässer zu wissen. Jörg Sambeth, der für Seveso verantwortliche La-Roche-Manager, verarbeitete fast 30 Jahre später seine Erinnerungen an die Katastrophe in seinem Buch "Zwischenfall in Seveso".

Es war ein unglaublicher Murks, Chaos, Angst und Feigheit. Als das Unglück passierte, hatte niemand den Überblick, keiner fühlte sich zuständig, immer gab es einen Höheren, der die Verantwortung hätte übernehmen müssen.

Jörg Sambeth erhielt die Aufgabe, das hochgiftige Dioxin zu beseitigen. Mit staatlicher Unterstützung konnte er kaum rechnen, erklärt Roland Fendler, beim Umweltbundesamt Experte für die Sicherheit von Industrieanlagen.

" Für die Entsorgung chemischen Industriemülls war zunächst mal der Betreiber ganz alleine verantwortlich und der damals für derartige Abfälle einzig mögliche Weg war die Deponierung, weil für derartige Stoffe noch keine Verbrennungstechnologie entwickelt war. Das ist natürlich ein Problem, wenn die adäquate Entsorgungstechnologie für einen Abfall noch gar nicht entwickelt ist. "

Jörg Sambeth schreibt über ein mysteriöses Angebot aus Paris, das Problem für eine Million Dollar aus der Welt zu schaffen.

"Wir übernehmen Ihre Lieferung an einem Flughafen Ihrer Wahl. Dann fliegen wir die Ware mit einem Linienflug aus, um keine Aufmerksamkeit zu erwecken. Mit einer Boeing 747 nach Buenos Aires. Dort laden wir um in eine kleinere Frachtmaschine nach Paraguay. Dort haben wir ein großes Loch vorbereitet. Ende der Reise. Einverstanden?"

Was aus diesem Vorschlag wurde, weiß auch Jörg Sambeth nicht. Nachdem er den Vorstand darüber informiert hatte, entzog ihm der Konzern den Entsorgungsauftrag. In den folgenden Jahren dachten sich zahlreiche Experten die obskursten Lösungen aus.

Das Gelände mit Olivenöl besprühen, damit das Sonnenlicht das Gift zersetzt.

Den Chemiereaktor in den Ätna werfen.

Das Gelände mit Napalm abfackeln.

Alles an Ort und Stelle vergraben

In einem Sondermüllofen verbrennen.


Doch diese Verbrennungsanlagen mussten erst einmal gebaut werden. Deshalb blieb der Dioxinschlamm zunächst jahrelang auf dem Fabrikgelände und wurde schließlich in die 41 Fässer gefüllt und dann in Frankreich versteckt. Was mit ihnen geschah, nachdem sie wiedergefunden wurden, weiß auch Roland Fendler vom Umweltbundesamt nicht genau:

" Die offizielle Darstellung ist, dass die 41 Fässer mit dem Reaktorinhalt auf einem Bauernhof in der Bretagne wieder gefunden wurden, und dann in Basel der Inhalt verbrannt wurde. Eine weitere Theorie besagt, dass in Wirklichkeit die 41 Fässer auf der Sonderabfalldeponie Schönberg, damals in der DDR, unter einer meterhohen Lehmschicht beerdigt wurden. "

Mit anderen Worten: Bis heute weiß niemand ganz genau, ob das Seveso-Gift nach dem Wiederauftauchen der Fässer endlich ordnungsgemäß entsorgt wurde. Bewiesen ist nichts, aber denkbar ist vieles. Bis heute tummeln sich im Müllgeschäft zwielichtige Firmen, die Gifte scheinbar kostengünstig entsorgen. Einige dieser Firmen gehören offensichtlich der Mafia. Sie lagern giftigen Sondermüll aus ganz Europa auf illegalen Deponien in Campanien, der Region um Neapel. Wenn das Gift dort unsachgemäß verbrannt wird, kann jederzeit wieder Dioxin in die Umwelt geraten. Bis heute reißt die Kette der Giftmüllskandale nicht ab. Ob in Eiern oder in Mozarella auch nach der Affäre um die Giftfässer von Seveso gelangte immer wieder Dioxin in Lebensmittel.