Gesichter des Islams

Von Reinhard Baumgarten · 13.12.2010
Die Zahl westlicher Opfer islamischer Extremisten geht in die Tausende. Die Zahl muslimischer Opfer geht sogar in die Hunderttausende. Berichte über Terror, Ehrenmorde, öffentliche Bestrafungen und blutige Konflikte werfen einen Schatten auf die gesamte Religion. Um deren Friedfertigkeit zu unterstreichen, zitieren islamische Gelehrte dagegen den Ausspruch des Propheten: "Wenn ihr einen Menschen tötet, so ist es, als ob ihr die ganze Menschheit getötet hättet."
"Tut Gutes euren Eltern; und tötet nicht eure Kinder aus Furcht vor Armut, und begeht keine schmachvollen Taten, seien sie offen oder geheim; und nehmt nicht irgendeines Menschen Leben – das Leben, das Gott als heilig erklärt hat. Dies hat Er euch aufgetragen, auf dass ihr euren Verstand gebrauchen möget."
Koran Sure 6 Das Vieh, Vers 151

"Es ist die absolute Katastrophe. Die schlimmsten Vorhersagen scheinen übertroffen zu werden."

"Today we've had a national tragedy. Two airplanes have crashed into the World Trade Centre in an apparent terrorist attack on our country.”

"Man mag nicht über die Zahl der Opfer nachdenken. Es können Tausende, Zigtausende sein."
"Die Islamisten, die Terroristen vor allem, die deuten das so ganz extrem, indem sie sagen, das steht da so im Koran."

"And if you go over you can see that people jumping out of the window right now. O my God!”

"Also: Die Christen, die Juden sind alles Ungläubige und der Koran sagt, kämpft gegen sie, dann kämpfen wir auch gegen sie. Aber es gibt andere, gemäßigte Kommentatoren, die das nicht übertragen auf alle Zeit."

Der Islam - eine Religion der Gewalt und der Unberechenbarkeit? Eine Religion der Terroristen, der Unvernunft, der Irrationalität, der Rachsucht? Diesen Eindruck kann gewinnen, wer die jüngste der drei monotheistischen Religionen durch die Optik moderner Medien betrachtet. Es dominiert die Berichterstattung über Probleme mit Muslimen.

Mehr als 1,4 Milliarden Menschen weltweit bekennen sich zum Islam. Islam bedeutet wörtlich: Hingabe an Gott. Das Wort leitet sich von dem arabischen Verb salima ab, das heil, unversehrt, in Frieden sein bedeutet. In Dutzenden Koranversen werden die Muslime zum friedlichen Miteinander aufgefordert. Im Koran heißt es, der Gruß im Paradies sei Salām – Frieden, Heil – ebenso der Gruß an die Propheten. Muslime weltweit begrüßen sich mit as-Salāmu'aleikum – der Friede, das Heil sei mit euch.

Doch es herrscht vielerorts Krieg innerhalb und außerhalb der islamischen Gemeinschaft. Nichts erscheint so sinnlos wie die Bombe in der U-Bahn, in Pendlerzügen, in Hotels, in Ferienanlagen, auf dem Marktplatz oder in Einkaufszentren. Sie wird bewusst gegen wehrlose Menschen eingesetzt, um zu töten und zu verstümmeln, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Sie ist Symbol menschenverachtender Auswüchse kaltblütiger Friedlosigkeit. Diese Friedlosigkeit versuchen bin Laden und seinesgleichen als Jihād, als angeblich religiös legitimierte Pflicht zu verbrämen.

Das arabische Wort Jihād (Dschihad) wird unzutreffend oft mit Heiliger Krieg übersetzt. Der Begriff kommt sowohl im Koran als auch in den Hadith genannten Aussprüchen des Propheten in verschiedenen grammatikalischen Abwandlungen vor. In Sure 9, Vers 41 heißt es beispielsweise:

"Rückt aus, ob leicht oder schwer, und setzt euch mit eurem Vermögen und mit eurer eigenen Person auf dem Weg Gottes ein."

In Dutzenden von Versen ermutigt und ermuntert der Koran zum Krieg gegen Feinde der Muslime und definiert, wie und warum gekämpft werden soll und wie mit Gegnern und Gefangenen zu verfahren ist. Die Verse wurden zumeist in einer Phase offenbart, als sich die noch junge muslimische Gemeinde von Medina im Krieg mit den nichtmuslimischen Mekkanern befand und in ihrer Existenz bedroht war.

"Seid nicht verzagt und bekümmert euch nicht, denn ihr werdet bestimmt hoch aufsteigen, wenn ihr (wahrhaft) Gläubige seid. Wenn ihr Wunden erlitten habt, so haben die feindlichen Leute ähnliche Wunden erlitten. Solche Tage teilen wir den Menschen abwechselnd zu."
Koran Sure 3 Das Haus von Imrān, Vers 139-140

Mit diesen koranischen Worten tröstet Mohammed seine Gefolgsleute nach der Schlacht von Uhud. Etwa 70 Mann verliert er im Jahr 625 – also nur drei Jahre nach der Flucht aus Mekka. Das Desaster auf dem Schlachtfeld wirkt demoralisierend auf die noch junge muslimische Gemeinde. Die schiere Existenz der neuen Religionsgemeinschaft steht auf dem Spiel.

"Was jene angeht, die für meine Sache Schaden erleiden und für sie kämpfen und getötet werden – ich werde ganz gewiss ihre schlechten Taten tilgen und werde sie ganz gewiss in Gärten bringen, durch die Wasserläufe fließen als eine Belohnung von Gott."
Koran Sure 3 Das Haus Imrān, Vers 195

In unseren Tagen wähnen sich viele Muslime in der Defensive. Sie haben das Gefühl, ihre Religion und ihre tradierten Werte seien in Gefahr. Sie haben das Gefühl, sie müssten ihre Kultur gegen westliche Bedrohungen verteidigen. Dieses Gefühl hat mit den Terroranschlägen der vergangenen Jahre und der damit einhergehenden Debatte über eine pauschal unterstellte Gefährlichkeit des Islams dramatisch zugenommen. Eine Folge davon ist, dass etliche Muslime teils unverhohlen, teils verdeckt Sympathie mit jenen religiös verbrämten Terroristen hegen, die den vermeintlich überlegenen Westen in beispielloser Weise herausfordern.

Die Extremisten wollen die herrschenden Machtverhältnisse ändern. Sie streben nach einem islamischen Utopia, das sie in der vom Propheten Mohammed gegründeten ersten muslimischen Gemeinde von Medina zu erkennen glauben. Das Idealbild ihrer Ummah genannten Gemeinschaft der Gläubigen ist frei von kritisch-historischer Betrachtung der islamischen Quellen.

Darin, meint der Oxforder Islamwissenschaftler Tariq Ramadan, liege eine große Gefahr:

"Alle Verse, die sich mit Gewalt, Krieg und Widerstand beschäftigen, müssen im Zusammenhang gesehen werden. Deshalb sage ich zu den Leuten auch immer, passt auf, wenn ihr sagt, jeder kann doch den Koran auslegen. Es kann gefährlich werden, wenn du nicht dafür ausgestattet bist, um zu verstehen, worüber du eigentlich redest. Das machen manche Muslime. Sie ziehen bestimmte Verse aus dem Koran und sagen: Ah, wir können töten, das steht doch da geschrieben. Ich sage, nein, das ist falsch! Das wurde geschrieben in einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Anlass.

Wir müssen aus dem Text nicht die wörtliche Bedeutung herauslesen, sondern die grundsätzliche Bedeutung. Deswegen haben die Gelehrten auch verurteilt, was auf Bali, in Madrid, London und den USA geschehen ist. Das Töten unschuldiger Menschen ist inakzeptabel, diese Taten sind inakzeptabel. Wir haben viele Interpretationen der Quellen, aber wenn du dir anschaust, was mehrheitlich in muslimischen Ländern wie auch von muslimischen Gemeinschaften im Westen gesagt wird, dann wird klar, dass Gewalt und das Töten von Unschuldigen im Namen des Islams nicht akzeptiert werden. Wir müssen auf die Stimme der Mehrheit hören."

Gewitter über Majalengka, einer Kleinstadt im Norden der indonesischen Insel Java. Heftig prasselt der Regen auf die Schlafhäuser. Rund 400 Mädchen und Jungen besuchen die Internatsschule mit dem arabischen Namen Al-Mizān. Al-Mizān bedeutet Waage – im übertragenen Sinne auch Unparteilichkeit/Gerechtigkeit.

Den Namen hat der Schulgründer Kyai Haji Maman aus Sure 55, Vers 9 des Korans abgeleitet:

"Wiegt daher eure Taten mit Gerechtigkeit und kürzt nicht das Maß."

Kyai Haji Maman ist knapp 1,75 Meter groß und etwas stämmig. Er hat einen kurz geschnittenen Kinnbart und einen leicht irritierenden Silberblick. 1995 gründet er die Internatsschule Al-Mizān, in der Schüler zu Santri genannten rechtgläubigen Menschen erzogen und ausgebildet werden:

"Wir geben den Santri Bildung, religiöse Bildung. Ohne Kenntnis der Schriften kann niemand erfolgreich sein. Wir unterrichten sie auch in wissenschaftlichen Fächern. Dann bereiten wir die Santri auf die Zukunft vor, indem wir sie mit Technologie vertraut machen. Als Beispiel: Wir unterrichten sie, wie sie mit dem Internet umgehen können. Dadurch können sie ihr Wissen über größere Netzwerke ausbauen. Wir fördern die jeweiligen Talente der Santri. Wenn jemand gut im Schreiben ist, dann fördern wir das. Ein anderer zeigt mehr Begabung für Technik und hat ein gutes Händchen in der Werkstatt. Dann wird er in den entsprechenden Einrichtungen ausgebildet."

Noch vor wenigen Jahrzehnten waren die Pesantren genannten Internatsschulen reine Religions- und Koranschulen. Das trifft heute nur noch auf einen Teil der mehr als 15.000 islamischen Internate auf Java zu. Zu unrühmlicher Bekanntheit gelangt im Herbst 2002 die Internatsschule Al-Mukmin Pesantren in Zentraljava.

O-Ton Tagesschau vom 13.10.02: "Guten Tag, meine Damen und Herren. Mindestens 182 Menschen starben in Indonesien bei einer Reihe von Bombenanschlägen- unter ihnen mindestens eine Deutsche. Mehr als 300 Personen wurden verletzt. Zehn Deutsche werden noch vermisst."

Drahtzieher dieses Terroranschlags soll Abu Bakar Bashir, der Gründer der Al-Mukmin Pesantren gewesen sein. Einige der Attentäter von Bali waren Absolventen seiner Schule, denen er im Unterricht eingebläut hatte:

"Es gibt kein edleres Leben als im Jihād als Märtyrer zu sterben."

Ein Tropfen Gift verdirbt die ganze Milch, zitiert Schulleiter Kyai Haji Maman mit Blick auf die Al-Mukmin Pesantren ein indonesisches Sprichwort. Ja, räumt er ein, es gebe auf Java Internatsschulen, in denen extremistisches Gedankengut verbreitet werde. Doch er warnt eindringlich davor, wegen weniger Internate mit extremistischem Hintergrund über alle religiösen Schulen den Stab zu brechen.

Regelmäßig lädt Kyai Haji Maman seit seiner Wandlung vom Glaubenseiferer zum dialogorientierten Muslim buddhistische Mönche, katholische Priester, protestantische Pfarrer und hinduistische Gurus in seine Pesantren ein. Seine Schüler und er feiern mit ihren nichtmuslimischen Gästen religiöse Feste. Sie diskutieren über Glaubenstexte und ethische Werte sowie über Wege zu Frieden und Glück. Der interreligiöse Dialog mit Besuchen in Gotteshäusern Andersgläubiger ist inzwischen fester Bestandteil der Erziehung in der Al-Mizān Pesantren.

Indonesien ist weltweit das Land mit den meisten Muslimen. Fast 210 Millionen Menschen bekennen sich zum Islam. Doch obwohl mehr als 85 Prozent der Gesamtbevölkerung Muslime sind, ist der Islam nicht Staatsreligion. Die Gründerväter Indonesiens erklärten stattdessen die sogenannte Pancasila – die Fünf Prinzipien – zur weltanschaulichen Grundlage des 1945 entstandenen Staates. Diese Fünf Prinzipien sind:

"Das Prinzip der All-Einen Göttlichen Herrschaft, Humanismus, Nationale Einheit, Demokratie und Soziale Gerechtigkeit."

Auf Java wird vor dem Gebetsruf die Bedug genannte Trommel geschlagen; auf Lombok trinken Muslime vor dem Gebet ein alkoholisches Getränk; in der Provinz Aceh müssen während des Freitagsgebets alle Geschäfte und Läden geschlossen bleiben. Der Islam in Indonesien ist sehr vielfältig und lässt sich mit dem offiziellen Staatsmotto Indonesiens beschreiben: Bhinneka Tunggal Ika - Vielheit in der Einheit. Dieser vielfältige, auf Java Kejawen genannte Islam ist fundamentalistischen Kräften ein Dorn im Auge. Sie streben einen "reinen", einen saudiarabischen Islam an, der frei sein soll von magischen, mystischen und nichtislamischen Elementen. Viele gläubige Muslime - Gelehrte, Politiker, Wissenschaftler – lehnen eine Arabisierung des indonesischen Islams und eine damit wahrscheinlich einhergehende Radikalisierung ab.

Schulleiter Kyai Haji Maman: "Wir sind entschieden dagegen, dass man den Islam mit Arabien identifiziert. Der Islam ist ein universeller Wert, der uns alle über die Wichtigkeit des Friedens und die Rettung der Menschheit von ihrem Abgrund lehrt. Al-Mizān lehnt das auch deswegen ab, weil die Offenbarung des Islams nie zum Ziel hatte, die Identität Arabiens zur Schau zu stellen. Es ging vielmehr darum, die lokalen bereits existierenden Lebensweisheiten mit dem universellen Wert des Islams zu vervollkommnen."

Das Islambild des Westens wird in nicht geringem Maße von Extremisten und Gewalttätern bestimmt. Die Terroristen werden nicht müde, sich auf den Koran zu beziehen, Reformer und Aufklärer tun das auch. Aber sie deuten die gleiche Schrift ganz anders.

"Wenn irgendeiner einen Menschen tötet – es denn (als Strafe) für Mord oder für Verbreiten von Verderbnis auf Erden – so soll es sein, als ob er die ganze Mensch
heit getötet hätte; während, wenn irgendeiner ein Leben rettet, es sein soll, als ob er der ganzen Menschheit das Leben gerettet hätte."

Koran Sure 5 Das Mahl, Vers 32