Geschichte im Konsumtempel

Von Dirk Fuhrig · 12.09.2013
Das Musée d’Histoire in Marseille ist architektonisch zwar bei weitem nicht so glanzvoll wie das Museum der Kulturen Europas und des Mittelmeers, mit dem sich Marseille ein komplett neues Gesicht verpasst hat. Aber obwohl sich das Geschichtsmuseum in einem Einkaufszentrum versteckt, ist es vorbildlich in die Stadtlandschaft integriert.
Antikes Ruinenfeld vor 70er-Jahre-Shopping Mall. In Marseille liegen die Gegensätze manchmal auch architektonisch dicht beieinander.

"Die Lage des Museums ist außergewöhnlich. Es ist das einzige Museum in Frankreich oder vielleicht in ganz Europa, das in einem Einkaufszentrum untergebracht ist – und das bei diesen wertvollen Sammlungen und bei seiner Bedeutung."

Was Laurent Védrine, der junge Leiter des "Musée d’Histoire de Marseille", so begeistert betont, ist auf den ersten Blick ein grandioses städtebauliches Desaster: Das Shopping-Paradies "Centre Bourse" mit seinen schrägen, fensterlosen Fassaden und rundlichen Ausbuchtungen wurde Ende der 70er-Jahre brachial in die Marseiller Altstadt gehauen – ganz ähnlich wie das berühmt-berüchtigte Hallen-Viertel in Paris. Drumherum war schon früher ein Wohnblock-Ensemble errichtet worden. Jetzt ist mitten in dieses Klein-Chicago am Mittelmeer das Historische Museum der Stadt implantiert worden:

"Das Museum ist das Ergebnis eines Ringens zwischen dem früheren Bürgermeister Gaston Defferre, der unbedingt ein Einkaufszentrum hier haben wollte, und dem Kulturminister der 60er-Jahre André Malraux, der wollte, dass die archäologisch bedeutsame Stätte hier erhalten, ausgewertet und konserviert wird."

Zu Füßen des Einkaufskomplexes sind auf einem begrünten Gelände die Ausgrabungen zu besichtigen, die von der ersten Ansiedlung künden: Vor rund 2600 Jahren ankerten phönizische Seefahrer in dieser schmalen Mittelmeer-Bucht und gründeten die Stadt Massaglia. Die antiken Ruinen wirkten lange Zeit wie einfach in eine Wiese gestellt, an einem schmuddeligen Seiteneingang des Shopping-Centers. Nun aber bilden sie das Entrée des neuen Museums. Das ist – vom Architekten Roland Carta - nämlich so geschickt in das Erdgeschoss der Mall eingebaut worden, dass die Räume wie eine Erweiterung der archäologischen Gartenfläche wirken. Große Glasfronten geben den Blick von außen nach innen frei, und umgekehrt.

"Es ging darum, die Fundamente der Stadt Marseille auf einem Hektar freizulegen und zu bewahren: Mit den Resten des antiken Hafens, mit der griechischen Stadtmauer – diesen für die Geschichte Marseilles, Frankreichs und ja auch ganz Europas so bedeutenden Funden."

Das neue Musée d’histoire de Marseille ist durch seine Lage also selbst Teil der Stadtgeschichte: Von den phönizischen Ursprüngen bis zum Wiederaufbau der Nachkriegszeit - und dessen Reparatur heute.

"Drei Punkte sind uns wichtig, was die Zeit vor und nach 1945 betrifft: Marseille als letzter großer Hafen in der freien Zone. Marseille als Hauptstadt der Résistance, des Widerstands. Und dann die Verwüstung der alten Stadtviertel. Dies aber immer im Kontext der zahlreichen Umgestaltungen und Zerstörungen, die Marseille seit dem 19. Jahrhundert erlebt hat."

Ann Blanchet hat die neue Dauerausstellung mit konzipiert. Der Zweite Weltkrieg ist darin lediglich eine von zahlreichen Stationen, an denen die bewegte Historie Marseille nachgezeichnet wird.

"Dann 1943 die Sprengung des Panier-Viertels und später die Bombardierungen durch die Amerikaner – all das ist Teil der Evolution der städtischen Landschaft."

Nach der Besetzung des nördlichen Teils von Frankreich wurde der Rest des Landes von der Vichy-Regierung des Generals Pétain verwaltet. Marseille war der letzte freie Hafen auf dem Kontinent, von dem aus Flüchtlinge in ein rettendes Exil ausreisen konnten. Laurent Védrine ist stolz auf die vielen Objekte, die er jetzt auf 15 000 Quadratmetern präsentieren kann:

"Aus dem Zweiten Weltkrieg haben wir etwa die deutsche Fahne von der Kapitulation 1944. Oder auch Dokumente, die mit dem alltäglichen Leben zusammenhängen. Da es keinen Gummi für Fahrradreifen mehr gab, haben die Leute manchmal auf Reifen aus Holz zurückgegriffen. Ganz berühmt sind ja auch die Autos, die mit Kohle betrieben wurden, weil es kein Benzin mehr gab. Das präsentieren wir alles hier in diesem Museum."

Die Ausstellung in den auf den Archäologie-Park ausgerichteten Sälen ist insgesamt stark anekdotisch ausgerichtet und bewusst leicht zugänglich gehalten, mit vielen audiovisuellen Elementen. Und vielen "Geschichten". Durch wenig wurde Marseille nämlich so berühmt wie etwa durch den Grafen von Monte Christo - der allerdings eine komplett fiktive Romangestalt von Alexandre Dumas ist.

Für Laurent Védrine ist es wichtig, dass das Museum alle anspricht:

"Wir sind wirklich mitten im Herzen von Marseille, wir sind zwei Schritte vom Alten Hafen weg, wir sind Teil eines Einkaufszentrums mit jährlich 10 Millionen Besuchern. Wir sind in Belsunce, einem sehr volkstümlichen Viertel. Wir wollen, dass das, was wir über die Geschichte Marseilles erzählen, Vergnügen bereitet."

Mehr Spaß im Museum – der populäre Ansatz der Ausstellung soll Leute ins Museum zu locken, die sich ansonsten nicht besonders für die Historie interessieren. Vielleicht verirren sich ja auch ein paar Marseiller ins geschichtsträchtige Erdgeschoss des "Centre Bourse", die eigentlich nur zum Einkaufen in den oberen Etagen gekommen sind. Marseille, das sich ja auch an vielen anderen Stellen der Stadt für das Jahr der Europäischen Kulturhauptstadt fein gemacht hat, bekommt mit dem Musée d’Histoire jedenfalls eine weitere Attraktion.

Homepage des Museums
Mehr zum Thema