Generationengerechtigkeit

Was schulden wir unseren Eltern?

Eine Familie im Sonnenuntergang auf der dänischen Ferieninsel Rømø, fotografiert am 05.08.2015. Foto: Patrick Pleul | Verwendung weltweit
Wie fest ist der Griff der Elterngeneration? © dpa-Zentralbild
Barbara Bleisch im Gespräch mit Simone Miller · 18.02.2018
Zeit, Geld, Nerven. Eltern geben viel für ihren Nachwuchs. Aber sind die Kinder ihnen deshalb etwas schuldig? Auf keinen Fall, findet die schweizerische Philosophin Barbara Bleisch.
Die meisten Eltern schmeißen für den eigenen Nachwuchs ihr ganzes Leben um: Sie ertragen schlaflose Nächte und verbringen atemlose Tage, sie geben ihre Zeit, ihr Geld und ihre Geduld – alles zum Wohle der Kinder. Was also schulden Kinder ihren Eltern? Diese Frage stellt sich wohl jedem erwachsenen Kind und mit besonderem Nachdruck, wenn das Verhältnis zu den Eltern noch dazu kompliziert ist.
Die schweizerische Philosophin Barbara Bleisch will deshalb wissen, ob das schiere Verwandtschaftsverhältnis Kinder bereits moralisch verpflichtet. Die Idee, dass Kinder Leistungen erhalten haben, die sie später wieder zurückgeben müssen, hat dabei nicht nur eine lange historische Tradition, sondern taucht auch in unterschiedlichen Kulturen auf.
Auch im heutigen Deutschland hat sie Aktualität: Im sogenannten "Rabenvater-Urteil" (2014) zum Beispiel verpflichtete der Bundesgerichtshof einen erwachsenen Sohn dazu, sich an den Pflegekosten seines Vaters zu beteiligen, obwohl dieser bereits Jahrzehnte zuvor den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte.
"Diese Idee die Eltern-Kind-Beziehung als Gläubiger-Schuldner-Verhältnis zu entwerfen, überzeugt mich überhaupt nicht", argumentiert Barbara Bleisch. Denn Kinder werden unfreiwillig geboren; die Fürsorge und Anstrengungen der Eltern lassen sich nicht quantifizieren:
"Es wäre total eigenartig, wenn die Eltern sagen würden: Jetzt noch drei Weihnachten und dann sind wir quitt."
Und manche Kinder erleiden in ihrer Kindheit zudem große Qualen.
"Und denen dann zu sagen, sie stehen trotzdem in der Schuld ihrer Eltern, das scheint mir komplett verfehlt. Da muss man nur mal Kafka lesen, um zu begreifen, was das bedeutet für ein Kind".
Aus dem verwandtschaftlichen Verhältnis lassen sich deshalb keine moralischen Pflichten ableiten, so Bleisch.

Es gibt keinen Ex-Vater und keine Ex-Tochter

Weshalb teilen trotzdem viele die Intuition, den eigenen Eltern etwas zurückgeben zu wollen? Bleisch findet eine Antwort in der Besonderheit der Familienkonstellation: Wie keine andere Beziehung prägt die Familie unsere Identität und macht uns deshalb auf besondere Weise für einander verletzlich. Denn Familienmitglieder können einander nicht aussuchen, sind sich aber zugleich unersetzlich. Selbst als Leerstelle schreiben sie sich in unser Leben ein.
"Es gibt eben keine Ex-Tochter und keinen Ex-Vater."
Gleichzeitig werden familiäre Beziehungen heute oft zwischen Menschen gelebt, die nicht blutsverwandt, einander aber trotzdem Eltern und Kinder sind.
Familiäre Verletzlichkeit ergibt sich, nach Bleisch, also nicht aus der Blutsverwandtschaft, sondern aus der sozialen Bande. Und sie gilt in beiden Richtungen. Die größte Herausforderung sieht sie darin, sich einander die Freiheit zu geben, verschieden zu sein. "Die Kinder sind eben mehr als die Gemächsel der Eltern", zitiert Bleisch Immanuel Kant und meint weiter:
"Aber auch Eltern dürfen Positionen vertreten, sich neu verlieben, ihr Leben neu ausrichten, auch wenn das den Kindern nicht passt".

Ein glückliches Kind geht seinen eigenen Weg

Ein gutes Kind zu sein, heißt deshalb nicht brav oder unterwürfig zu sein. Nicht im moralischen, sondern im ethischen Sinn sollte man ein gutes Kind sein, so Bleisch.
"Und dazu gehört überhaupt nicht, unterwürfig die Erwartungen der Eltern abzuspulen, sondern ein Kind, das ein geglücktes Leben führen kann, nimmt seine eigenen Bedürfnisse auch ernst und ist in der Lage, seinen eigenen Weg zu gehen."
Als letzte "Schicksalsgemeinschaft" scheint uns die Familie heute fast schon anachronistisch. So wichtig ist uns die Wahlfreiheit in allen anderen Lebensbereichen. Genau in ihrer Unfreiwilligkeit sieht Bleisch jedoch eine große Chance.
"Es hat etwas ganz spezifisch Wunderbares, dass man in seiner Familie eben nicht einfach ersetzt oder abgewählt werden kann."
Auch als "Trainingslager für geistige Offenheit" taugt die Familie wie keine andere Konstellation, meint Bleisch. Denn anders als in unseren Filterblasen sind wir in unseren Familien oft mit konträren weltanschaulichen Positionen und uns fernen Lebensweisen konfrontiert:
"Die Familie ist heute der widerständige Ort", und durch diese Herausforderung können wir lernen, da ist Bleisch sicher. Die besondere Kunst besteht ihr zufolge darin, das Wissen um die gegenseitige Verletzlichkeit dabei hochzuhalten. Es ist die Kunst, den richtigen Abstand zu finden.

Barbara Bleisch: "Warum wir unseren Eltern nichts schulden"
Hanser-Verlag, 205 Seiten, 18 Euro

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